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30 Jahre nach der Wende in Bulgarien

Foto: BGNES

Der 10. November des Jahres 1989 begann für die Menschen in der damaligen Volksrepublik Bulgarien wie jeder andere Tag. Es trat jedoch ein Ereignis ein, das dieses Datum in ein historisches verwandeln sollte – die Wende vom Sozialismus zur Demokratie.

In jener Zeit reifte in den Ostblockstaaten die sogenannte „Perestroika“; die Menschen lasen freiwillig russische Zeitungen, um sich über die rasante Entwicklung zu informieren; in Ländern, wie Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei und der DDR rollten die Köpfe sozialistischer Führungspolitiker. Die Bulgaren fragten sich, wann und wie das in ihrem Land geschehen könnte. Bereits seit den Morgenstunden des 10. November 1989 meldeten die Medien über das beginnende Plenum der Bulgarischen Kommunistischen Partei. Schließlich traf die Nachricht vom Rücktritt des langjährigen Parteichefs Todor Schiwkow ein, was den Anfang der Wende einläutete. Die Bürger hatten eine unklare Vorstellung von der weiteren Zukunft, die Wende war jedoch ein langerwartetes Ereignis…

Sofia, 18.11.1989  /  Foto: Ivan Bakalov (RFE/RL)

Drei Jahrzehnte danach ist das Gros der Bulgaren nicht davon überzeugt, dass die ersehnte Demokratie erreicht worden sei. „Das, was wir der Kürze halber als Wende bezeichnen, ist schon lange vorbei“, kommentiert in einem Interview für Radio Bulgarien der Politologe Parwan Simeonow.

Wir wechselten von der Plan- zur Marktwirtschaft, von Ost nach West und von einem unfreien System zu einer liberalen Demokratie. Diese Wende ist vollzogen. Ob gut oder schlecht – wir haben Demokratie, einen Markt und sind Mitglieder der NATO und der Europäischen Union. Die Tagesordnung in unserem Land ist eine andere geworden. Es werden andere Fragen gestellt, die einer schnellen Lösung bedürfen. Leider ist ein Großteil der Menschen unzufrieden mit den Ergebnissen der Wende. Die Unzufriedenheit der Öffentlichkeit ist zu einer Konstante geworden. Politiker kommen und gehen. Sie sind ihrerseits reifer geworden. Am Anfang war der Enthusiasmus groß und jeder wollte sich mit Politik beschäftigen. Heutzutage hat es den Anschein, als ob sich die anständigen Menschen nicht mehr der Politik widmen wollen und es hat sich, ob zum Guten oder zum Bösen, so etwas wie eine Schicht von Berufspolitikern herausgebildet.“

Sofia, 18.06.2013 / Foto: BGNES

Auch die Botschaften der Politiker an ihre Wähler sind andere, betont seinerseits der politische Analyst Dimitar Petrow und fährt fort:

In den Anfangsjahren war alles noch in gewisser Weise laienhaft. Es wurden Begriffe verwendet, über deren Bedeutung man sich nicht im Klaren war. Man musste erst einmal erkunden, was hinter Worten, wie Demokratie, Pluralismus, Privatisierung und Restitution steht. Heute, 30 Jahre nach der Wende, kennen sich Politiker und Bürger besser in der Politik aus. Das heißt aber noch lange nicht, dass wir 30 Jahre weiser sind, was die Herausforderungen von heute anbelangt.“

Bis heute ist man über die Ereignisse vom 10. November 1989 nicht einhelliger Meinung. Dimitar Petrow umreißt das Schwanken in den Ansichten aus seiner Sicht:

In den ersten Tagen und Monaten nach dem 10. November hatte ich das Gefühl, dass das Gros der Menschen wie im Dunkeln tappt. Es ereignete sich etwas, auf das viele gehofft hatten, einige sogar nicht gewagt hatten, zu hoffen. Was jedoch folgen werde – davon hatte keiner eine Ahnung, selbst ausländische „Faktoren“, die uns zu beraten versuchten, wie wir die Demokartei und die Marktwirtschaft aufbauen sollten. Das zweite Jahrzehnt nach der Wende wurde von der Erholung von der Wirtschaftskrise in Bulgarien gekennzeichnet, die als „Winter der Widenow-Regierung 1996/97“ in unsere Geschichte eingegangen ist. Ende des Jahres 1999 begannen sich die Dinge zu stabilisieren und es schien, als ob die Misere für immer der Vergangenheit angehört. Die ersehnte europäische Zukunft war jedoch noch weit entfernt. 20 Jahre nach der Wende wurde die Betonung auf die Freiheit gesetzt. Wir wurden uns unserer Freiheit bewusst, die wir früher nie hatten. Heute ergibt es keinen Sinn mehr, mit Früher zu vergleichen. Allen ist klar, dass wir heute besser leben, als im Sozialismus. Der richtige Vergleich sollte nicht quantitativ, sondern qualitativ gemacht werden. Vor der Wende waren die Bulgaren eine erniedrigte Nation voller Komplexe. Heute treten wir selbstbewusster auf und können sagen, dass wir das Vermächtnis des bulgarischen Volkshelden Lewski befolgt haben und den anderen europäischen Völkern gleich sind – nicht nur am politischen Verhandlungstisch in Brüssel, sondern auch in Bezug auf den Lebensstandard und den Perspektiven. Wir sind uns aber weiterhin der Errungenschaften nicht bewusst, die wir in diesen 30 Jahren geschafft haben. Objektiv betrachtet haben wir in dieser kurzen historischen Zeitspanne viel erreicht. Subjektiv sind aber viele Menschen der Ansicht, dass die Wende gescheitert ist.“

Sofia, 30.10.2019 / Foto: BGNES

Der politische Analyst Dimitar Petrow warf jedoch auch einen Blick voraus und malte kein allzu optimistisches Bild von Bulgarien in 30 Jahren: Seiner Meinung nach sei es nicht ausgeschlossen, dass ein neuer „Eiserner Vorhang“ durch Europa gezogen wird. Petrow hofft, dass sich Bulgarien dann auf der besseren Seite befinden wird. Das könnte jedoch Wunschdenken bleiben, wenn Westeuropa seine Einstellung zur demographischen Krise und die Migration ändern sollte.

Übersetzung und Redaktion: Wladimir Wladimirow



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