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1995-1997: "Die Winter unserer Unzufriedenheit", Teil 1

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Foto: Archiv

Zum ersten Mal in unserer Sendereihe "80 Jahre in 80 Wochen" gehen wir auf Ereignisse von drei Jahren ein und sogar etwas darüber hinaus, da die Regierung von Jean Widenow aus dieser Zeit symptomatisch für die Misserfolge des Übergangs zu Demokratie und Marktwirtschaft in Bulgarien ist, mit deren Folgen wir auch heute noch zu kämpfen haben.

Der Winter 1995-96 war von Massenprotesten gegen die Regierungszeit der Bulgarischen Sozialistischen Partei geprägt, die von Krisen, Hyperinflation und zügelloser Kriminalität gezeichnet war. Man nannte ihn "den Winter unserer Unzufriedenheit" nach dem Vorbild des Namens der Massenproteste 1978-79 in Großbritannien, was wiederum ein Zitat der Eingangszeilen von William Shakespeares Drama "Richard III." ist. Nach ihrem Sieg bei den Parlamentswahlen vom 18. Dezember 1994 hatte die Bulgarische sozialistische Partei eine neue Regierung aus parteilosen Experten, Mitgliedern der politischen Vereinigung "Ecoglastnost" und Vertretern der Bauernpartei gebildet, die übrigens schon vor der Wende der treue Verbündete der Kommunisten und die einzige zugelassene Partei neben der KP war. Was geschah nun in der Regierungszeit dieses Kabinetts und wie kam es zum "Winter der Unzufriedenheit"?

Das Kabinett "Widenow" unterbrach zuallererst die Wirtschaftsreformen, was in der Folge zu einem Zusammenbruch der Wirtschaft und Ende 1996 – Anfang 1997 zur Hyperinflation führte. Die Politik der Regierung war darauf ausgerichtet, die staatlichen Unternehmen wiederzubeleben, aber gleichzeitig die Preise ihrer Produktion zu kontrollieren – sprich: niedrig zu halten. Auf diese Weise begannen die Unternehmen, die mit Import-Rohstoffen arbeiteten, jedoch schnell auf Verlust zu arbeiten.

Hier die Worte des Premierministers Jean Widenow auf der Pressekonferenz zum ersten Jahrestag seiner Regierung aus dem Tonarchiv des Bulgarischen nationalen Rundfunks:

"Erinnern wir uns daran, dass die Demokratische Linke die Führung eines Landes übernahm, das sich in einem Zustand einer beispiellosen Wirtschaftskrise befand: drastische Kürzungen in der Produktion, eine große Anzahl von unrentablen Unternehmen, aufgegeben oder durch Konkurrenten übernommen, ein Bankensystem im Kollaps. Die Menschen brauchten Stabilität, aber es erwies sich als äußerst schwer, sie zu erreichen. In unserem Wahlprogramm haben wir uns verpflichtet, die Zerstörung zu stoppen und Bulgarien zu erneuern: durch Veränderungen in der Wirtschaft, Ankurbeln der Produktion, Schutz der Landwirte, klare Regeln in den marktwirtschaftlichen Beziehungen, eine soziale und effiziente Privatisierung, internationale Integration. Wir haben Veränderung, Gerechtigkeit und Sicherheit versprochen", so Jean Widenow. Er ahnte wohl nicht, dass der große Finanzkollaps erst noch bevorsteht.

In der Zeit der vorhergehenden Regierung von Ljuben Berow wurden nämlich mit staatlichen Mitteln zahlreiche private Banken gegründet – natürlich nicht von Hinz und Kunz, sondern von sorgsam ausgewählten Leuten – davon hatten wir in unserer letzten Sendung gesprochen. Diese Banken vergaben – natürlich wieder an ausgewählte Leute – mit leichter Hand und in großer Zahl ungedeckte Kredite in Millionenhöhe. Die natürliche Folge waren massenhafte Bankpleiten und ein Zusammenbruch des Bankensystems. Gleichzeitig begann die Regierung die "Massenprivatisierung" über sogenannte Gutscheinhefte. Im Jahr 1996 wurden viele Bulgaren dazu verleitet, Gutscheine zu kaufen, mit denen sie Aktien erhalten oder sich an der Verwaltung privatisierter Unternehmen beteiligen sollten. Daraus wurde nichts. Zwei Jahre später wurden die Unternehmen in Holdinggesellschaften transformiert, von denen viele kurz danach pleite gingen. Die Kleinaktionäre verloren ihr Geld.

Hinzu kam ein weiteres Problem, das zu einer Krise wurde. Im Jahr 1995 war die Getreideernte weltweit schlecht. Aus diesem Grund beschränkten die Europäische Union, die USA und Kanada die Ausfuhr von Getreide. Trotz dieser Umstände tat die Regierung der Bulgarischen Sozialistischen Partei genau das Gegenteil – sie verlängerte die Frist für die Getreideexporte und erlaubte es den Händlern, nicht nur Getreide aus vergangenen Jahren, sondern auch der neuen Ernte ins Ausland zu verkaufen. Wegen der hohen Getreidepreise auf dem Weltmarkt war das für diese Firmen sicher ein sehr gutes Geschäft. Doch bereits im Oktober 1995 machten sich in Bulgarien die ersten Anzeichen einer Getreideknappheit sichtbar. Es erwies sich, dass die Staatsreserve an Getreide zur Hälfte geleert war. Die Getreidepreise wuchsen fast auf das Doppelte. Die Brotpreise schossen in die Höhe, was in Bulgarien, wo das Brot das Grundnahrungsmittel schlechthin, besonders für die ärmeren und ärmsten Schichten ist, ein überaus ernstzunehmenden und brisantes Problem darstellte.

Im März 1997, wenige Monate nach dem Sturz der Regierung, begannen Ermittlungen zur Ursache der Getreidekrise. 12 Jahre (!) später, im Jahr 2009, kam der Fall endlich vor Gericht... und siehe da – alle Angeklagten wurden freigesprochen. Der Gericht beschloss, dass der damalige Landwirtschaftsminister Wassil Tschitschibaba, seine Stellvertreter und der ehemalige Vizepremier und Minister des Handels Kiril Zotschew, die die Genehmigungen ausgestellt hatten, keinerlei Schuld an der Getreidekrise tragen. Die Getreidekrise 1995-96 war jedoch eine unübersehbare und nicht zu leugnende Tatsache und zusammen mit dem Konkurs von 15 Banken und der massiven Inflation von über 300 Prozent führte sie zum Sturz der Regierung, gefolgt von Massenprotesten gegen die Bildung einer anderen Regierung mit dem Mandat der Sozialisten.

Vor dem Hintergrund der Krisen, der Hyperinflation und der Proteste blühte die organisierte Kriminalität und ihre Vertreter fühlten sich mehr als je zuvor unantastbar. Und das obwohl am 25. April 1995 einer der berühmt-berüchtigsten Vertreter – der Gründer der "Versicherungsgesellschaft" VIS Wassil Iliew – auf offener Straße im Kugelhagel starb. Wie bei allen spektakulären Auftragsmorden in den vergangenen Jahrzehnten in Bulgarien sind die Täter und die Auftraggeber bis heute unbekannt.

Doch zurück zur Regierung. Am 21. Dezember 1996 reichte Jean Widenow auf Druck der eigenen Partei seinen Rücktritt als Ministerpräsident und als Vorsitzender der Sozialistischen Partei ein. Das setzte den innerparteilichen Kämpfen "für" und "gegen" die Regierung ein Ende. Sie flammten aber nach der Niederlage der Sozialisten bei den Präsidentschaftswahlen am 3. November 1996 wieder auf.

Eine der Hypothesen für den Rücktritt der Regierung "Widenow" ist mit dem Konflikt zwischen ihm und Ex-Premier Andrej Lukanow verbunden, der inzwischen die Leitung des bulgarisch-russischen Unternehmens Topenergy übernommen hatte. Lukanow organisierte eine regelrechte Kampagne gegen den Ministerpräsidenten, wegen seiner Versuche, die Lieferpreise für russisches Erdgas für Bulgarien zu drücken und sicherzustellen, dass das bulgarische Gasübertragungsnetz nicht in russische Hände gerät. Topenergy war als Vermittler zwischen Gazprom und Bulgargas zwischengeschaltet (weil der russische Erdgasmonopolist es so wollte) und Lukanow war eine Schlüsselfigur bei der Lösung von Fragen, die das Unternehmen betrafen. Dadurch wurde er aber auch ein Problem für die Russen, weil er wider den Erwartungen nicht alles so tat, wie die Gazprom es wollte. Diese Theorie liefert übrigens auch eines der möglichen Motive für seine Ermordung im Oktober 1996 – darauf gehen wir aber in der nächsten Sendung unserer Reihe ein.

Heute, 18 Jahre später, ist die Regierung von Jean Widenow Geschichte, und er selbst ist nicht mehr in der Politik. Seine Regierungszeit wird jedoch immer als ein Beispiel in Erinnerung bleiben, wie man es nicht macht und wie ein Land nicht regiert werden sollte und auch mit der Hoffnung, dass die Winter unserer Unzufriedenheit sich nie wiederholen werden.

Deutsche Fassung: Petar Georgiew



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