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2004: Der Magier von Kalimanitza

Foto: Archiv

"Ich hatte stets schlechte Noten, stets Fünfen in Bulgarisch und Literatur. Und zwar deshalb, weil ich Einleitung, Ausführung und Schlussfolgerung nie in einem Aufsatz zusammenbringen konnte. Ich habe stets so geschrieben, wie ich es empfand." Das sind die Worte vom Schriftsteller Jordan Raditschkow, für den Wort und Sprache die beiden Dinge sind, denen wir das Überleben als Volk verdanken. Und hier weitere Gedanken von Jordan Raditschkow aus dem Goldenen Fonds des Bulgarischen Nationalen Rundfunks.

"Aus der Menschheitsgeschichte hat nur das überlebt, was aus Wort und Stein geschaffen ist. In mancher Hinsicht ist das Wort dem Stein sogar überlegen. Die aus Worten errichteten Gotteshäuser sind im Gegensatz zu den Steinbauten unversehrt, ohne den kleinsten Riss. Bei uns hat das Wort nach wie vor Zauberkraft. Die Bulgaren waren sich seiner enormen Kraft bewusst. Wir können getrost behaupten, dass wir in hohem Maße auch durch das Wort die schweren 13 Jahrhunderte unserer Geschichte überlebt haben. Eine Volksweisheit besagt, den Menschen sollst du nicht mit dem Holzstock schlagen, der dem Vieh vorbehalten ist. Den Menschen sollst du mit Worten schlagen."

Im Dorf Kalimanitza bei Montana geboren, wird Raditschkow zu einem Schriftsteller, der den Prinzipien der schöngeistigen Literatur wenig Beachtung schenkt und seine eigenen Regeln schafft. Über seinen Geburtsort erzählt er stets mit Rührung. Das Dorf war bei Berkowitza gelegen. Heute ist nichts mehr von ihm übrig, denn es musste vor langer Zeit einem Stausee weichen. Den Trubel um seinen Namen mochte er nie. Die Liebe seiner Anhänger reichte ihm aus. Hass war für ihn bis an sein Lebensende ein Fremdwort.  Dennoch gesteht Raditschkow in einem Interview ein, unser Land werde sicherlich kein besserer Ort zum Leben werden. Ein solcher Ort könne nur von guten Menschen geschaffen werden, was man jedoch nicht von allen behaupten könne. In jener Zeit, in der wir wie "kopflose Hähne"  davon gerannt sind und die Steine drauf und dran waren, zusammenzufallen und uns zu begraben, waren es die Werke von Raditschkow, die uns veranlassten, mit unserer Selbstzerstörung aufzuhören und über unser Leben nachzudenken. Der Mensch ist ein Rechtschreibfehler im Konzept Gottes und der längste von Ihm geschöpfte Satz.  Er ist ein Geschöpf, das anstelle eines behobenen Fehlers zwei neue macht. "Es ist wohl besser, wenn wir mit den Fehlern weitermachen. Vielleicht verwandeln sie sich mit der Zeit ja zu einer neuen Qualität von uns", fügte der Schriftsteller hinzu.

2001 wurde er von der Sofioter Universität für den Literatur-Nobelpreis nominiert und reiht sich damit neben Persönlichkeiten wie Iwan Wazow, Pentscho Slawejkow, Elisaweta Bagrjana und Blaga Dimitrowa ein. Allerdings wurde bisher kein Bulgare mit diesem Preis geehrt

Leider wurde sein Werk vom Nobelkomitee nicht verstanden, obwohl es ins Schwedische übersetzt worden war. Dieser Preis wäre jedoch für uns als Gesellschaft wichtiger gewesen als für den Schriftsteller - er hätte unseren Stolz und Patriotismus gestärkt.

An seinem Lebensabend zeigte der Magier von Kalimanitza seinen Landsleuten, wie man über sich selbst erhaben wird und sich von der Seite betrachtet. Seine Leser liebten ihn, auch wenn sie ihn nicht immer verstanden. Denn sie wollten die Schönheit unserer Welt neu entdecken. Vielleicht waren sie ja noch nicht reif für die erforderliche Wandlung des Bewusstseins. Selbst in seinen letzten Lebensjahren hatte Raditschkow jenes Leuchten in den Augen, in dem sich die Reinheit und Schönheit der Seele eines großen Spatzen widerspiegelte. (Anmerkung: Die Helden eines seiner Bücher sind Spatzen.) Er ist mehr als nur ein Schriftsteller. Er ist ein wahrer Lehrer in Sachen Güte, Liebe und Selbstlosigkeit. Er verlor keine überflüssigen Worte und sprach nur, wenn er gefragt wurde. Er verstand und schätzte scheinbar wirklich die Kraft und den Sinn eines jeden Wortes, das er aus dem lebendigen Bienenstock seines Bewusstseins erwählte.

Im Goldenen Fonds des Bulgarischen Nationalen Rundfunks wird ein Interview mit dem Dichter Rumen Leonidow zum Ableben von Raditschkow im Jahre 2004 aufbewahrt.

"Jordan Raditschkow ist von uns gegangen, und das in seinem Lieblingsmonat Januar. Wir haben einen außergewöhnlichen Bulgaren verloren. Ein solcher wird nur alle 100 Jahre geboren. Wir hatten die Ehre, in seiner Zeit zu leben. Seine besorgt blickenden Augen strahlten Weisheit und Reinheit aus. Er mochte das Ungewöhnliche an den gewöhnlichen Menschen.  Er mochte Individualisten, derer er selber einer war. Er betrachtete die Welt durch das Prisma der Ironie, er beherrschte das Geheimnis des Paradoxen, der Magie des Gleichnisses. Er selbst verkörperte ein kunstvolles Sinnbild. Er musste sich nichts merken oder aufschreiben. Alles war im lebendigen Bienenstock seines Bewusstseins gespeichert. Jetzt kommen wir nicht umhin, ihm zu sagen, dass wir - die Spatzen - trauern und sehr verwaist sind. Für immer verwaist in der Leere der Stadt und des Dorfes, in denen es nunmehr weder warme Schornsteine noch Krümel auf den Simsen gibt."

Wir sind verwaist und verwaisen weiter, in dem jene Menschen von uns gehen, denen es beschieden ist, uns die Wahrheit und den Sinn zu offenbaren. Von uns wird lediglich verlangt, diese Tatsache zu begreifen und ihre Vermächtnisse zu beherzigen. Raditschkow wusste, dass wir das nicht machen. Und hier seine Diagnose für uns: "Ich denke, dass wir zumindest jetzt Zieseln gleichen, die in der Steppe leben und nur aus den Löchern spähen, um den Horizont zu mustern. Bei der kleinsten Bewegung ziehen sie den Kopf sofort wieder ein und verschwinden in ihren Höhlen. Wir sind nicht nur verschlossen, sondern leben auch weiter in einer unglaublichen Isolation."

Übersetzung: Christine Christov



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