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Der 6. September - Tag der Vereinigung

Der bulgarische Fürst Alexander I. in Plowdiw
In den frühen Morgenstunden des 6. September 1885 ging eine Delegation mit Sachari Stojanow an der Spitze zum Gouverneur Ostrumeliens, erklärte ihn für abgesetzt und die Vereinigung für vollzogen.Der bulgarische Fürst Alexander I. marschierte in Plowdiw ein und das Volk bejubelte ihn als Fürsten aller Bulgaren.
Der 6. September gilt in Bulgarien als der Tag der Vereinigung, obwohl sich an jenem Tag des Jahres 1885 lediglich zwei, wenn auch die größten ethnisch bulgarischen Landesteile vereinten: das Fürstentum Bulgarien und Ostrumelien.
Alles begann mit dem Berliner Kongress im Sommer des Jahres 1878.Nach der Befreiung aller ethnisch bulgarischen Gebiete auf der Balkanhalbinsel in Folge des russisch-türkischen Krieges von 1877/78 wurde am 31. Januar 1878 der Vorfriede von San Stefano abgeschlossen. In Punkt 5 wurde folgendes über das zukünftige Bulgarien vereinbart: “Bulgarien wird innerhalb der auf Grund der Majorität der bulgarischen Bevölkerung festgesetzten Grenzen als ein autonomes Fürstentum mit nationaler christlicher Regierung und einheimischer Miliz errichtet werden. Die türkische Armee wird hier nicht verbleiben.” Es folgte die Beschreibung der neuen Landesgrenzen im Norden entlang der Donau von Widin bis Rasova, im Osten entlang der Schwarzmeerküste von Mangalia bis Midia, die Häfen Warna und Burgas einschließend, im Westen von Widin entlang des Schargebirges an Nis vorbei entlang der albanischen Grenze - von Mazedonien nur die Stadt Thessaloniki ausschließend - im Süden entlang der Küste des Ägäischen Meeres bis Portolagos.

Jubel herrschte in Bulgarien - nach 500 Jahren sollte alles Land bulgarischer Zunge frei werden und wieder ein selbständiges politisches Leben führen können. Die Freude dauerte aber nicht lange.
Die von den Russen vorgesehenen Veränderungen auf dem Balkan stießen auf den Widerstand der anderen Großmächte. Gegen ein vereintes und unabhängiges Bulgarien selbst mit den Grenzen von San Stefano hätte kaum eine Großmacht Europas Einspruch erhoben, wenn nicht allzu deutlich das Ziel der Schaffung eines so starken Balkanstaates durch die glaubens- und stammesverwandten Befreier zu erkennen gewesen wäre.

England hatte vorsorglich seine Mittelmeerflotte ins Marmarameer einlaufen lassen und zu verstehen gegeben, dass es auch einen Krieg wagen würde. Die Donaumonarchie unterstützte England. Frankreich begünstigte England; Italien Österreich-Ungarn - beide in ureigenstem Interesse. Russland konnte nur mit dem Zuspruch Deutschlands rechnen, aber unter den gegebenen Umständen konnte Bismarck nur eine Vermittlerrolle spielen. Nach langwierigen Verhandlungen konnte er die Großmächte zu einem Kongress nach Berlin einladen, an dem England, Österreich-Ungarn, Russland, Deutschland, Frankreich, Italien und die Türkei teilnahmen. Das Ergebnis des Kongresses war für die Bulgaren niederschmetternd. Das Bulgarien von San Stefano wurde in drei Teile zerrissen, wobei man nur einem Teil den Namen Bulgarien zugestehen wollte. Das heutige Nordbulgarien mit dem Gebiet von Sofia sollte nach den Kongressbeschlüssen ein autonomes und tributpflichtiges, also ein türkisches Lehnsfürstentum bilden, das von den 164.000 Quadratkilometern des San-Stefano-Bulgarien nur noch 64.000 Quadratkilometer umfassen sollte. Der Fürst von Bulgarien durfte von der Bevölkerung frei gewählt werden, musste aber vom Sultan mit Zustimmung der Großmächte bestätigt werden. Südbulgarien sollte unter der Bezeichnung Ostrumelien eine von der Hohen Pforte halbabhängige Provinz mit ausgedehnter administrativer Autonomie bleiben. Nach dem Wunsch der Engländer musste auch der Name Südbulgarien verschwinden, denn die Bewohner sollten selbst durch den Namen ihres Landes nicht an ihre Nationalität erinnert werden können.
Der dritte Teil Bulgariens von San Stefano, also das gesamte Mazedonien, wurde wieder der direkten und uneingeschränkten Autorität des Sultans unterstellt. Faktisch blieb nur ein Teil des bulgarischen Volkes mit einem eigenen, halbwegs unabhängigen Staatswesen frei.

Auf dem Berliner Kongress wurde, besonders unter dem Druck Großbritanniens und Österreich-Ungarns, das nach 500jähriger Knechtschaft befreite Bulgarien wie auf einem Seziertisch kaltblütig zerstückelt. Und jeder Bulgare empfand den Schmerz des scharfen diplomatischen Messers wie an seinem eigenen Leib. Proteste kamen aus allen Teilen des Landes in den Grenzen von San Stefano. In Mazedonien brach sogar ein Aufstand aus, der von der türkischen Regierung, unterstützt von England, niedergeschlagen wurde. Die Lage konnte vorläufig nicht geändert werden. Anstatt sich dem friedlichen Aufbau eines eigenen Staates widmen zu können, musste nun das bulgarische Volk drei künstlich geschaffene Fragen zu lösen versuchen: die ostrumelische, die mazedonische und die der Vasallenstellung des Fürstentums. Das hat wertvolle Kräfte des bulgarischen Volkes Jahrzehnte hindurch aufgerieben und viele Opfer und viel Blut gekostet. Der von den Mächten angeblich angestrebte Friede auf dem Balkan wurde auf dem Berliner Kongress geradezu demonstrativ unterminiert.

Die Verfassungsgebende Volksversammlung des Fürstentums Bulgarien erklärte die nationale Vereinigung zu einer Priorität in der Außenpolitik des jungen Staates. Die politische Lage in Europa war aber in keiner Weise günstig für die Idee einer Vereinigung. Keine der Großmächte wagte es, sich dieser Herausforderung zu stellen, die eine Revision des Berliner Vertrages nach sich ziehen würde. Die führenden Kräfte im Fürstentum Bulgarien, in Ostrumelien und in Mazedonien kamen zu der Schlussfolgerung, das erst alle Bemühungen auf Südbulgarien konzentriert werden müssen. Der nächste Schritt wäre dann der Anschluss des verbleibenden Gebietes.

Im Februar 1885 wurde in der südbulgarischen Stadt Plowdiw, damals Hauptstadt Ostrumeliens, ein zentrales bulgarischen Revolutionskomitee gegründet mit dem Ziel der Vereinigung von Nord- und Südbulgarien. Die Initiative dazu stammte vom Revolutionär, Politiker und Schriftsteller Sachari Stojanow. Im Programm des Komitees lesen wir: “Das Komitee will es, weil die Bevölkerung dieses Gebietes aus Bulgaren besteht, die auch von Bulgaren geleitet werden wollen. Wir wollen nicht über andere herrschen und lassen es auch nicht zu, dass uns andere beherrschen.”
In kurzer Zeit entstanden in den größeren Städten und Gemeinden Vertretungen des Komitees. Ab Ende August des Jahres 1885 fanden in ganz Südbulgarien Massendemonstrationen und Versammlungen in Unterstützung der Vereinigung statt. Man war einem Aufstand nahe.

In der Nacht vom 5. zum 6. September 1885 war es in Plowdiw ungewöhnlich ruhig. Auf den Straßen waren nur die Schritte der türkischen Nachtwachen zu hören. Die Bulgaren warteten auf das vereinbarte Signal. Zur gleichen Zeit rückten bewaffnete Gruppen aus dem Gebiet heran. Zu einem Zusammenstoß kam es jedoch nicht. Es traf eine Nachricht aus dem Fürstentum Bulgarien ein, dass die Armee bereitsteht. Daraufhin ging in den frühen Morgenstunden eine Delegation mit Sachari Stojanow an der Spitze zum Gouverneur Ostrumeliens, erklärte ihn für abgesetzt und die Vereinigung für vollzogen.
Der bulgarische Fürst Alexander I. marschierte in Plowdiw ein und das Volk bejubelte ihn als Fürsten über alle Bulgaren.

Die Nachrichtenagenturen Europas verbreiteten die Meldung in Windeseile.
Die Reaktion der Großmächte war natürlich abweisend. Die bulgarische Vereinigung widersprach dem Berliner Vertrag. Es überraschte sie aber, dass sowohl die bulgarischen Politiker, als auch die einfachen Menschen sich bereit zeigten, die Vereinigung mit allen Mitteln zu verteidigen. Serbien, angestachelt von Österreich-Ungarn, erklärte Bulgarien den Krieg, weil das Gleichgewicht auf dem Balkan gestört worden sei. Russland, das den Berliner Vertrag nicht ohne Zähneknirschen hatte hinnehmen müssen, trat plötzlich für die Aufrechterhaltung der Vertragsbestimmungen und gegen den Anschluss ein. Der russische Zar Alexander III. konnte den bulgarischen Fürsten auf Grund seiner Unduldsamkeit gegenüber den Einmischungsversuchen Russlands in die inneren Angelegenheiten Bulgariens nicht ausstehen. Kurzerhand zog er alle sich in bulgarischem Dienst befindenden russischen Offiziere ab. Dem jungen bulgarischen Heer verblieben nur einige wenige Offiziere, unter denen nur ein einziger Major war. Trotzdem gelang es ihnen, unter dem Oberbefehl des jungen Fürsten Alexander I., die königlich-serbische Armee in nur sieben Tagen zu zerschlagen. Die Donau-Monarchie rettete den serbischen König Milan, indem ihr Vertreter den Vormarsch der bulgarischen Truppen in Serbien unter Androhung militärischer Maßnahmen zum Stehen brachte. Der daraufhin abgeschlossene Vertrag stellte nur den Frieden wieder her, ohne Serbien Gebietsverluste oder materielle Entschädigungen aufzuerlegen.
Damit fanden sich die europäischen Großmächte mit der Vereinigung Bulgariens ab.

Autor: Wladimir Wladimirow

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