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Friedensvertrag von Neuilly vor 90 Jahren abgeschlossen

Das Ratifizierungsdokument für den Friedensvertrag von Neuilly
Foto: archives.government.bg
Vor 90 Jahren, am 27. November 1919 war Bulgarien gezwungen, als eine der Verlierermächte des Ersten Weltkrieges den Frieden von Neuilly zu unterzeichnen. Der Vertrag von Neuilly-sur-Seine ist einer der Pariser Vorortverträge, der mit seinen rücksichtslosen Klauseln, wieder einmal die bulgarischen Hoffnungen auf Vereinung des Vaterlandes zunichte machte. Wie war es dazu gekommen?

Nach der Befreiung Bulgariens 1878 hatte der im gleichen Jahr einberufene Berliner Kongress den Bulgaren deutlich vor Augen geführt, dass die Großmächte ihre ureigensten Interessen verfolgen, ohne Rücksicht auf kleine Völker und ihre Rechte zu nehmen. Das ethnische Territorium Bulgariens wurde zerstückelt und die ersehnte Souveränität in die Zukunft verbannt. Anstatt alle Kräfte zum Aufbau des neuen Staates einzusetzen, sah man sich vor neue Hauptaufgaben gestellt: Befreiung und Vereinigung aller Landesteile und Unabhängigkeitserklärung des jungen Staates. Mit viel Mühe konnten 1858 wenigsten zwei Teile Bulgariens vereinigt werden und im Herbst des Jahres 1908 begrüßten sich die Bulgaren mit “Gesegnetes Königreich”.
Nach Erringen der staatlichen Souveränität wurden Möglichkeiten zur vollständigen nationalen Befreiung und Vereinigung geschaffen. Diese Idee, Kern des Regierungsprogramms, wurde von der Bevölkerung begrüßt und unterstützt und gab der ganzen Entwicklung in Bulgarien einen Auftrieb. Der russische Zar erkannte die Unabhängigkeitserklärung Bulgariens an und auch mit den Nachbarstaaten wurden gute Beziehungen unterhalten, die 1912 zum Balkanbund führten. Der Balkankrieg von 1912/13, in dem die noch unter türkischer Herrschaft stehenden Gebiete mit vornämlich christlicher Bevölkerung befreit wurden, brachte jedoch nichts Gutes für Bulgarien.

Nach dem ersten Balkankrieg kam es nämlich unmittelbar zum zweiten, indem aber nunmehr die einstigen Verbündeten über Bulgarien herfielen, allein weil sie ihm den Gebietszuwachs nicht gönnten, auch wenn er vordem in Geheimverträgen zwischen den Verbündeten vereinbart worden war. Die Niederlage kam schnell und der Bukarester Friedensvertrag von 1913 brachte zusätzliche Verluste. Russland, auf das die Bulgaren in Erinnerung auf die einstige Befreiung von den Türken hoffnungsvoll schauten, griff jedoch nicht ein und zog es vor, sich trotz anfänglicher Engagements nicht in die Balkanangelegenheiten einzumischen.

Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass Bulgarien im Ersten Weltkrieg zum Lager der Gegner Russlands gehörte. Nur Deutschland und seine Verbündeten hatten sich bereit erklärt, sich für die Wiedergutmachung des vom bulgarischen Herrscher Ferdinand I. und den bulgarischen Politikern verlorenen Balkankrieges einzusetzen und die bulgarischen Ansprüche auf die ethnisch-bulgarischen Gebiete außerhalb der Landesgrenzen zu berücksichtigen. Aber der Erste Weltkrieg brachte Bulgarien als Verlierermacht erneut Verluste ein. Es kam wieder zu einer Katastrophe.

Von 113.920 Quadratkilometer Fläche, die Bulgarien 1915 besaß, ging infolge des Vertrages von Neuilly seine Flache auf nur mehr 103.146 Quadratkilometer zurück. Diese territorialen Verluste waren es aber nicht allein, die das Land schwächten; schwerer als sie wog der Umstand, dass trotz des Krieges die ohnehin offenen Fragen nicht gelöst werden konnten und ihre Lösung in noch weitere Feme rückte denn je. Dazu kamen Reparationslasten, die für das kleine Land untragbar waren, verschärft durch den unabsehbaren Flüchtlingsstrom, der aus den abgetrennten Gebieten mittellos und hoffnungslos, aber bis zum äußersten radikalisiert, in das Land fließt, langsam innerpolitisch an Macht gewinnt und bald auch die Außenpolitik beeinflusst. Die bulgarische Armee wird zerschlagen; es werden nur 10.000 Mann Gendarmerie, 3.000 Grenzwächter und ein stehendes Heer von 20.000 Söldnern mit 12jähriger Dienstzeit gestattet. Eine interalliierte Militärkommission wird eingesetzt, die bis zum 31. Mai 1927 im Land bleibt und die Abrüstung überwacht.

Eine der Lehren, die wir daraus ziehen können ist, dass es der bulgarischen Politik wie so oft an Weitsichtigkeit gefehlt hat. Man fiel von den einstigen Höhen und stürzte hinab in die nationalen Katastrophen, was sich aber auf das Volksbewusstsein negativ auswirkte - die Bevölkerung wurde zutiefst fatalistisch. Man begann sich nicht mehr so sehr um das Gemeinsame, das Nationale zu kümmern, sondern mehr um das eigene Überleben, das nicht mehr von einem selbst, sondern von den Großmächten abhängig schien. Die Bulgaren machten einen erneuten Schritt auf dem Weg des „sich politisch Treibenlassens“.

Bulgarien war jedoch nicht das einzige Opfer des großen militärischen Zusammenstoßes. Der Erste Weltkrieg bereitete der friedlichen und erstaunlich langen “Belle Epoque” ein jähes Ende. Der Kampf um Vorherrschaft und Neuaufteilung der Welt brachte das Gleichgewicht in Europa erneut durcheinander, dem gesellschaftliche Erschütterungen und geistige Verwüstung folgten. Im anscheinend erloschenen Brandherd des Ersten Weltkrieges glühten die Funken für einen neuen, noch schrecklicheren Brand.
По публикацията работи: Wladimir Wladimirow


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