Mariä Verkündigung ist eines der bedeutendsten Feste in der christlichen Kirche. Die Bezeichnung des Festes gibt seinen Sinn wieder: der Jungfrau Maria wird die frohe Botschaft über die Empfängnis und die Geburt des Gottessohnes Christus verkündigt. Ob Zufall oder nicht – der Feiertag folgt fast unmittelbar dem astronomischen Frühlingsanfang und so wird die Empfängnis des Erlösers mit dem Erwachen der Natur, mit dem Entstehen neuen Lebens in Verbindung gebracht. Dieser Feiertag ist übrigens der einzige bedeutende im orthodoxen Kirchenkalender, an dem die Hausarbeit nicht untersagt ist. Im Gegenteil! Dem Volksglauben nach wurde in den Häusern gründlich sauber gemacht, um den Frühling würdig zu empfangen. Ferner wurden gerade an diesem Tag die Ohren der Mädchen durchstochen – man glaubte, dass die Wunden dann leichter heilen würden. Auch pflanzte man das erste Gemüse, das so besonders schmackhaft werden sollte.
Das Wunder der unbefleckten Empfängnis hat seinerseits natürlich die Phantasie des Volkes herausgefordert. So findet man in einer Reihe von Überlieferungen und Liedern verschiedene Deutungen, wie Maria ihre Jungfräulichkeit bewahrt habe. In einem der Texte heißt es, sie habe an einer duftenden Blume gerochen und ihr starkes Aroma habe sie geschwängert. Gemeint ist die Madonnen-Lilie, die tatsächlich in voller Blüte einen berauschenden Geruch verströmt. Daher überreicht in der Verkündigungsszene der Erzengel Gabriel Maria eine solche Lilie. Es gibt aber auch Überlieferungen, laut denen es das Basilikum-Kraut gewesen sei, an dem Maria gerochen habe. Es riecht nicht nur stark, sondern gilt in der orthodoxen Welt allgemein als Kirchen- oder Christusblume. Häufig wird mit einem Basilikum-Strauß auch die Wasserweihe vorgenommen. Basilikum wachse am Grab des Erlösers und besitze die Kraft, böse Geister zu vertreiben. Und so pflanzte man gerade am Verkündigungstag auch Basilikum aus.
Eine der Volksüberlieferungen besagt, dass Maria durch das Essen eines Apfel die Empfängnis erhalten habe. Eine andere Legende weiß zu berichten, dass es ein Smaragd gewesen sei, den die Gottesmutter verschluckt habe. Die Geburt selbst sei in Anlehnung an die Erschaffung Evas aus einer ihrer Rippen geschehen. So erklärten sich unsere Vorfahren, wie Maria ihre Jungfräulichkeit nicht verlieren konnte.
Auf etlichen Ikonen wird bei der Verkündigungsszene Maria mit einer Handspindel dargestellt. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sie weder einen Spinnrocken, noch ein Spinnrad benutzt, sondern lediglich einen Spinnwirtel. Laut Historikern sei dies die älteste Form des Verspinnens von Fasern, die jedoch bis heute noch an einigen Orten praktiziert wird. Diese Darstellung geht auf eine apokryphe Legende zurück, die folgendes berichtet: Die Priester des Tempels in Jerusalem hätten die Ausarbeitung eines neuen Vorhangs für das Heiligtum in Auftrag gegeben. Er sollte jedoch von geachteten und gesitteten Jungfrauen angefertigt werden. Eine darunter wäre Maria gewesen. Ihr sei die Aufgabe zugekommen, purpurfarbene Wolle zu verspinnen – ein Symbol für den königlichen Rang der Gottesmutter und ihres künftigen Sohnes. Mit dieser Arbeit beschäftigt sei vor ihr der Erzengel erschienen und habe die frohe Botschaft verkündet. Theologen deuten den Purpur-Vorhang als den Leib Christi – das Gewandt, das die Mutter für ihren Sohn anfertigt; Gott würde es anlegen und auf diese Weise in menschlicher Gestalt auf die Erde kommen.
Das Spinnen gehört seit Urzeiten zu den traditionellen Handarbeiten der Frauen. Dementsprechend kommt in den meisten Völkern dieser Tätigkeit eine besondere mythologische Bedeutung zu. Die heidnische Mutter-Göttin spann, strickte und webte und schuf so die Welt. Der Faden, sei es des Lebens oder des Schicksals, entspricht der Nabelschnur, die Mutter und Kind verbindet. Die antiken Schicksalsgöttinnen, die bis heute in der Folklore als Feen an der Wiege eines Kindes stehen und seinen Lebensweg bestimmen, werden häufig mit der Tätigkeit des Spinnens in Verbindung gebracht – denken wir nur an das weitverbreitete Märchen von Dornröschen. Nach dem Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies wurde Eva von Gott dazu verdammt, sich zeitlebens als Spinnerin zu betätigen.
In der bulgarischen Folklore ist das Spinnen Teil vieler wichtiger Rituale. So zum Beispiels spinnt die junge Braut, wenn sie zum ersten Mal ihr neues Heim betritt. Auch bei den Schembartläufern, bei denen Männer in verschiedene Rollen schlüpfen (auch von Bräuten und Großmüttern), wird gesponnen. Sie vertreiben die bösen Geister des Winters, aber auch der Frühlingsmonat März, der in Bulgarien durch die Oma Martha symbolisiert wird, wird mit den traditionellen Martenitzi eingeleitet – den aus weißer und roter Wolle gesponnenen Kordeln und Quasten. Und so ist es kein Wunder, dass selbst in der Kirchenmalerei auf der Verkündigungsszene eine Martenitza zu sehen ist, wie im Kloster von Osenowlak bei Sofia. Auf der Wandmalerei geht vom Heiligen Geist ein Lichtbündel aus, der zusammen mit einer Martenitza das in andächtiger Haltung versunkene Antlitz der Gottesmutter zu berühren gedenkt. Auf diese Weise verschmilzt die Volkstradition mit dem religiösen Glauben – die unbefleckte Empfängnis erfährt eine den Folkloretraditionen entsprechende Auslegung.
Übersetzung und Redaktion: Wladimir Wladimirow
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