Heute vor genau 135 Jahren verabschiedete die konstituierende Volksversammlung Bulgariens die erste Verfassung des Landes nach der Befreiung von der annähernd 500-jährigen türkischer Fremdherrschaft. Dieses Grundgesetz, entstanden in der alten Reichshauptstadt Tarnowo, ist als die Tarnowoer Verfassung in die neuere Geschichte unseres Landes eingegangen.
Die ersten bulgarischen Gesetzesgeber hatten eine verhältnismäßig leichte Aufgabe. Als Grundlage diente ihnen das sogenannte “Organische Statut”, ausgearbeitet von russischen Juristen Lukijanow an Hand der belgischen Verfassung von 1831 und genauer gesagt ihrer Balkan-Varianten, der rumänischen von 1866 und der serbischen von 1869, die den Besonderheiten der Region Rechnung trugen. Der Entwurf sah für Bulgarien bezüglich des staatlichen Aufbaus vor, dass eine konstitutionelle Erb-Monarchie mittels einer dem Parlament Rechenschaft pflichtigen Regierung herrschen soll, wobei den Bürgern umfangreiche politische Rechte zugesprochen werden.
„229 gebildete Bulgaren setzten sich zusammen und schufen im wenigen Monaten den Grundstein für das neue Bulgarien“, erzählt der heutige Parlamentspräsident Michail Mikow. „Die Abgeordneten stammten aus den fünf Regionen Bulgariens – Warna, Russe, Tarnowo, Sofia und Widin.“
Der Verfassungsentwurf teilte jedoch die Abgeordneten der konstituierenden Volksversammlung in Liberale und Konservative. Diese zwei Parteien waren bereits vor der Befreiung des Landes 1878 entstanden, waren jedoch unter den Namen “Junge” und “Alte” bekannt und wurden nunmehr entsprechend den im damaligen Europa üblichen Namen eingetragen.
Die Konservativen mit den Führungspolitikern Todor Burmow, Konstantin Stoilow, Todor Ikonomow, Dimitar Grekow, Marko Balabanow, Grigor Natschowitsch u.a., waren Menschen mit einer europäischen Bildung. Sie hegten die Befürchtung, dass das bulgarische Volk noch nicht reif ist, um breite politische Rechte zu nutzen, die der Verfassungsentwurf von Lukijanow vorsah. Aus diesem Grund heraus sprachen sie sich für die Einrichtung eines Parlaments mit zwei Kammern aus, wie auch für eine begrenzte Wählerschaft in Abhängigkeit von Vermögensstand, Bildung und Alter.
Die Liberalen wurden von Petko Slaweikow, Petko Karawelow und Dragan Zankow geleitetet. Sie verlangten eine völlige Gleichberechtigung der Bürger in politischer Hinsicht, wie auch ein Ein-Kammer-Parlament als einzigstes gesetzgebendes Organ des Landes.
Heftige Debatten wurden geführt. Die Liberalen waren jedoch in der Mehrheit und setzten so ihre Ansichten durch. Am 16. April 1879 wurde das Grundgesetz Bulgariens verabschiedet. Mit dieser Verfassung wurde Bulgarien zu einem der modernsten Staaten, nicht nur Europas, sondern weltweit. Die Tarnowoer Verfassung garantierte den Bürgern eine volle Gleichberechtigung; verboten waren jegliche Titel, Standesprivilegien und sogar Orden. Oberstes Machtorgan war die Volksversammlung, die Exekutive teilten sich die Regierung und der Fürst. Wahlberechtigt waren alle Männer ab ihrem 21. Lebensjahr, ohne Unterschied auf ethnische Zugehörigkeit und Religion. Um Abgeordneter zu werden musste man halbwegs gebildet und älter als 30 sein. Die Verfassung garantierte die Religions- und Gewissensfreiheit, wie auch die der politischen Rechte, einschließlich der Pressefreiheit. Die Grundschulausbildung wurde kostenlos und obligatorisch. Die Vollmachten des Monarchen beschränkten sich auf das Oberkommando der Armee, Amnestieerlasse und das Recht, vom Parlament verabschiedete Gesetze wieder zur Diskussion zurückzuschicken. Der Paragraph 136 der Verfassung gab ihm aber auch das Recht, die Volksversammlung aufzulösen und Neuwahlen anzuberaumen, so dass die jeweilige Regierung von ihm in gewisser Weise abhing.
Trotz gewisser Änderungen in den Jahren 1893 und 1911, blieb die Tarnowoer Verfassung bis 1947 in Kraft, als sie vom kommunistischen Regime ersetzt wurde. Nach der demokratischen Wende in Bulgarien, flossen einige grundlegende Prinzipien der ersten bulgarischen Verfassung in das 1991 verabschiedete neue Grundgesetz unseres Landes ein.
Übersetzung und Redaktion: Wladimir Wladimirow
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