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Prof. Georgi Blisnaschki: „Europawahl bringt neue politische Lage hervor“

Foto: BGNES

Die Ergebnisse der Europawahl in Bulgarien offenbaren wesentliche Veränderungen in der politischen Landschaft. Aufgrund des zerbrechlichen parlamentarischen Rückenhalts der Regierung und eines beträchtlichen nicht parlamentarisch vertretenen Teils der Bevölkerung war dieses Votum gleichzeitig ein Test für die innerpolitische Stabilität. Wie sieht die Lage aktuell aus?

"An die Tür klopfen vorgezogene Parlamentswahlen. Es ist an der Zeit, dass die Regierung über ihren Rücktritt nachdenkt", kommentiert Prof. Georgi Blisnaschki für Radio Bulgarien. "Die Europawahl hat definitiv eine neue politische Lage im Land hervorgebracht. Trotz spezifischem Wahlcharakter hat sich das Votum auf den Fortgang der Ereignisse in Bulgarien ausgewirkt. Offensichtlich haben wir eine Partei, die alle anderen Formationen deutlich deklassiert hat - und zwar die führende Oppositionspartei GERB. Und das, obwohl sie in den letzten zwölf Monaten massivem Druck ausgesetzt war. Diese Partei hat nicht nur überlebt, sondern auch breite öffentliche Unterstützung mobilisiert. Hinter GERB steht ein aktiver Teil der Bevölkerung und der Geschäftskreise. Leider hat sich die Regierungspartei der Sozialisten mit ihren Zielen übernommen. Sie ordnete ihre Politik dem Revanchismus ihres Parteichefs Sergej Stanischew unter, wofür sie letztendlich von den Wählern abgestraft wurde. Das ist für die sozialistische Idee alles andere als positiv. Aber vielleicht ist diese Krise ja auch der Beginn eines neuen Anfangs. Egal aus welchen Blickwinkel man die Lage bei uns betrachtet - die Regierung, die vor einem Jahr auf bizarre Weise an die Macht kam, ist nicht in der Lage, eine breite öffentliche Zustimmung für sich zu gewinnen und ist daher zum Scheitern verurteilt. Je schneller man sich zu vorgezogenen Parlamentswahlen entschließt, desto besser. Es ist gut möglich, dass die Ergebnisse der Europawahl eine neue Welle öffentlichen Unmuts gegen die Regierung lostreten. Zumal vor allem im Energiesektor schmerzhafte Entscheidungen anstehen. Dort stehen maßgebende Gesellschaften vor dem Aus, was einer Katastrophe gleichkommen würde. Auch das Gesundheitswesen ist mit schwerwiegenden Problemen behaftet. Viele dieser Fakten wurden im Hinblick auf die Wahlen bisher verschwiegen. Bis Ende Herbst wird es den Bürgern wie Schuppen von den Augen fallen. In diesem Sinne ist es ratsam, keine Zeit zu verlieren und vorgezogene Parlamentswahlen anzuberaumen. Jeder Aufschub ist katastrophal, und zwar nicht nur für die Regierungskoalition aus Sozialisten und Türkenpartei (BSP und DPS), sondern für das ganze Land. Wir dürfen nicht zulassen, dass Bulgarien wegen des Starrsinns eines Klans, der die Interessen der Oligarchie bedient, in die Kategorie der s.g. heruntergekommenen Staaten gestuft wird."

Wie bewerten sie die neue Formation "Bulgarien ohne Zensur" und den hohen Stimmenanteil der Türkenpartei DPS?

"Für die Türkenpartei sind die Dinge klar. Die Formation, die seit einem Vierteljahrhundert ein getreuer Regierungspartner der Sozialisten ist und mit ihnen durch dick und dünn geht, hat wie gewohnt ihre Stammwählerschaft mobilisiert und ein entsprechendes Ergebnis eingefahren. Aus gutem Grund habe ich ein Referendum zur Einführung der Wahlpflicht und zur Änderung der Wahlregeln initiiert, womit der Status dieser Partei abrupt fallen würde. Allerdings gibt es starken Widerstand gegen diese Idee. Was "Bulgarien ohne Zensur" betrifft, wurden für diese Partei enorme Mittel verausgabt. Es wird sich zeigen, ob und wie lange die Wähler an dieser Partei festhalten. Bis zum Herbst ist es eine lange Zeit. Dieser Formation ist eine Partei vom Typ "Catch Show", d.h. sie hat für jeden etwas parat und suggeriert eine einfache und schnelle Lösung der Probleme. Jeder, der ein wenig von Politik versteht, weiß, dass das nicht möglich ist. D.h. diese Partei steht die Konfrontation mit der politischen und sozialen Realität erst noch bevor. Fakt ist, dass sich die politischen Kräfte neu geordnet haben und dieser neuen Konstellation Rechnung getragen werden muss."

Wird die Welle der Euroskeptiker auch nach Bulgarien überschwappen?

"Diese Welle ist bereits übergeschwappt. Ich war sehr überrascht von den Ausbrüchen von EU-Skeptizismus, von den nicht endenden Angriffen auf die Institutionen der Gemeinschaft. Was die bulgarischen Euroskeptiker betrifft, haben sie es sehr schwer. Bulgarien ist ein Land an der Peripherie der Gemeinschaft, das nicht zuletzt wegen seiner Haltung zur Ukraine mit Argwohn betrachtet wird. Für viele ist Bulgarien nach wie vor das Trojanische Pferd Russlands in der EU. Viele Leute werden in Kürze verstehen, wie schwierig Politik auf europäischer Ebene ist. Dort zählen handfeste Argumente, gute Kontakte und Überzeugungsfähigkeit. D.h. das Verhalten vieler unserer Politiker wird man negligieren, sie werden abseits stehen und von keinem beachtet werden. Die Realitäten der europäischen Politik verlangen ein ganz anderes Verhaltensmuster."

Übersetzung: Christine Christov



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