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Die neuen Staatsschulden und die "variablen Mehrheiten" im bulgarischen Parlament

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Das bulgarische Parlament hat endgültig den Vertrag mit vier Banken über die Emission einer Anleihe von 8 Milliarden Euro ratifiziert. Der Beschluss wurde mit den Stimmen der regierenden GERB-Partei und des Reformatoren-Blocks, der Bewegung für Rechte und Freiheiten (DPS), der Alternative für bulgarische Wiedergeburt (ABW) und des Bulgarischen demokratischen Zentrums (BDZ) gebilligt. Die Abgeordneten der Patriotischen Front, die ansonsten die regierende GERB-Partei unterstützen, enthielten sich der Stimme. Gegen den Beschluss stimmten die Bulgarische sozialistische Partei und die nationalistische Partei "Ataka".

Die Abstimmung sollte eigentlich schon Mittwoch vergangener Woche stattfinden, wurde aber wegen der Positionen der ABW und der Patriotischen Front verschoben. Nach Gesprächen mit dem Finanzminister erklärten die Vorsitzenden der beiden Parteien entschieden, dass sie gegen die Neuverschuldung sind und dagegen stimmen werden. Das Gleiche tat auch die DPS. Eine Woche später, nach Tagen erbitterter Debatten, wurde der Beschluss doch möglich, weil die DPS und die ABW ihre Positionen änderten. Dafür nannten sie die gleichen Motive: sie sagten, dass sie mit den Antworten zufrieden seien, die Finanzminister Goranow auf ihre Fragen gegeben habe. Er erklärte seinerseits, dass die 8 Milliarden Euro das höchstmögliche Limit seien und dass die Regierung nicht unbedingt die ganze Summe in Anspruch nehmen werde:

"Ich glaube an die reformatorische Kapazität dieses Kabinetts und übernehme die Verpflichtung, dass mindestens 2 Milliarden Euro von den von uns kalkulierten Mitteln, die aus der Summe aus den fälligen Schuldenrückzahlungen und dem eingeplanten Haushaltsdefizit bestehen, nicht genutzt werden müssen", so der Finanzminister.

"Wir kommentieren das Problem vom Standpunkt der Technologie für die Erlangung einer Stimmenmehrheit", sagte der Politologe Strahil Delijski. "Wenn es um eine solche Art politische Lösung geht, dann ist es sehr wichtig, dass sich die Debatten auf die strategischen Ziele des Staates und der Wirtschaft orientieren, doch eben solche Debatten haben wir nicht gehört. Wenn wir ständig neue Schulden aufnehmen, um die alten zurückzuzahlen und die Defizite auszugleichen, dann mag dieses Modell vielleicht für die Regierungen und für die Banken gut sein, doch nicht für den größten Teil der Gesellschaft. Von den erwarteten Reformen ganz zu schweigen, weil das die einfachste Art ist, sie hinauszuschieben. Weder die Regierenden noch die Opposition hatten den Wunsch, die strukturelle Beschaffenheit der bulgarischen Wirtschaft zu diskutieren. Der Grund dafür ist, dass unsere politische Elite sich eigentlich nicht wie eine Elite verhält. Eine der wichtigsten Eigenschaften der politischen Eliten ist ihre Fähigkeit, langfristige Perspektiven zu bieten. Unsere Leute verhalten sich jedoch wie eine kurzfristige und konjunkturbedingte Elite, die in der Wissenschaft "Plutokratie" genannt wird."

Die Ratifizierung, die sich so in die Länge gezogen hat, ist ein Zeichen dafür, dass die schon bei der Bildung des zweiten Kabinetts von Bojko Borisow geäußerte Idee von "variablen Mehrheiten" in die Tat umgesetzt wird. Der DPS-Abgeordnete Jordan Zonew erklärte im Parlament, dass seine Partei sich aus der Regierungsgewalt zurückgezogen habe, um bessere politische Bedingungen für Reformen zu schaffen und sein nun zufrieden, weil sie die Ansätze dafür sehe. Das ist übrigens nicht das erste Mal, dass die DPS die Regierung unterstützt – das war zum Beispiel auch bei den Rentenfonds der Fall.

In Anbetracht der etwas nachlässigen Haltung der GERB-Partei gegenüber den kleineren Parteien, die ihre Regierung unterstützen und der politischen Konfrontation zwischen der Bewegung der Rechte und Freiheiten und dem Reformatoren-Block setzte dieser ein Zeichen, als er in der ersten Lesung des Beschlusses dagegen stimmte und bei der zweiten – dafür. Der Co-Vorsitzende der Fraktion des Blocks Radan Kanew begründete diese Position folgendermaßen:

"Es bleibt der ernsthafte Verdacht, dass wir Zeugen eines Manövers zum Austausch der Parlamentsmehrheit geworden sind. Viele Äußerungen aus Kreisen der GERB verbargen gar nicht die Absicht, durch diese Abstimmung die Patriotische Front und vielleicht auch die ABW aus der Mehrheit herauszunehmen. Wir haben gesehen, dass die ABW auf eine recht seltsame Art und Weise auf dem letzten Drücker noch die Kurve genommen hat und die Patrioten – nicht. Wir müssen diesen Verdacht aus der Welt räumen, da die Stabilität unseres Landes zwei Seiten hat. Die eine ist die finanzielle Stabilität und die andere - eine gesunde Mehrheit, die die Durchführung der notwendigen Reformen garantiert, damit wir uns in Zukunft nicht mehr solche Schulden aufbürden müssen", sagte Radan Kanew.

Das Thema der "variablen Minderheiten" wird wahrscheinlich auch weiterhin, aus anderen Anlässen, aktuell bleiben und die damit verbundenen Prozesse werden sicherlich nicht schmerzlos sein. Nach der jetzigen Abstimmung im Parlament erklärte der Vorsitzende der ABW, Ex-Staatspräsident Georgi Parwanow, den Positionswechsel seiner Partei zum politischen Fehler und kündigte an, er werde bei der nächsten Vorstandssitzung seinen Rücktritt einreichen.

Übersetzung: Petar Georgiew



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