Zum ersten Mal seit ihrem Machtantritt im Jahr 2002 hat die islamisch-konservative Partei von Präsident Recep Tayyip Erdogan ihre absolute Mehrheit im türkischen Parlament verloren. Bei den jüngsten Parlamentswahlen am 7. Juni konnte die AKP nur 40,8 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinen. Das ist eine herbe Niederlage für Erdogan, der alles auf eine einzige Karte gesetzt hatte – die Umwandlung der Türkei in eine Präsidentenrepublik.
„Diese Wahlen waren eine Art Referendum pro und contra Ergodans Modell, das zunehmend Macht auf sich konzentriert hatte“, kommentiert der Leiter des Instituts für Wirtschaft und internationale Beziehungen Ljubomir Kjutschukow. „Ungeachtet der unumstrittenen wirtschaftlichen und sozialen Fortschritte der ersten zehn Jahre beginnt dieses Modell mit der Zeit zu bröckeln und Erdogans Einfluss schmilzt.“
Die Wahlergebnisse haben auch für eine Überraschung gesorgt. Die viertstärkste Partei im Land – die 2012 gegründete Demokratische Partei der Völker (HDP) – konnte die hohe 10-Prozent-Hürdezum Einzug ins Parlament überwinden. In der breit gefächerten Formation sind sowohl Sozialdemokraten als auch prokurdische Organisationen vereint. Womit sollte man unter den gegebenen Umständen rechnen – mit Neuwahlen, einer Koalitions- oder einer Minderheitsregierung?
„Momentan stehen alle Möglichkeit offen“, meint Ljubomir Kjutschukow. „Obwohl alle politischen Kräfte beim Wahlkampf auf die „Anti-Erdogan- Karte“ gesetzt haben, ist ein Bündnis aller Formationen gegen dessen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung eher unwahrscheinlich. Der Grund dafür ist, dass zwei davon grundverschieden sind – gemeint sind die rechte nationalistische Partei und die linke prokurdische Partei. Obwohl die drei Oppositionsparteien zur Zeit die Möglichkeit einer Koalition mit der AKP von sich weisen, sollte diese Variante nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Die meisten Beobachter gehen allerdings von einer Regierung der Minderheit aus.“
Der Erhaltung der politischen Stabilität in der Türkei wird sowohl aus internationaler Sicht als auch für unsere bilateralen Beziehungen eine Schlüsselbedeutung zugemessen. Die Türkei hat sich in den letzten Jahren zum regionalen Leader und globalen Faktor in wichtigen internationalen Fragen etabliert. Bulgarien ist an einer zügigen Aufstellung einer neuen Regierung interessiert, die eine klare und konsequente Außenpolitik führt.
„Es gibt viele Sphären, die für unsere Beziehungen wichtig sind“, führt Ljubomir Kjutschukow weiter an. „Nach 2010 gab es eine Zeit, in der unsere bilateralen Beziehungen eher der Dynamik und Problematik der türkischen Interessen folgten. Das trifft auch für die Auflösung der Balkanabteilung beim Außenministerium zu. Bulgarien ist mehr oder weniger von seiner aktiven außenpolitischen Position auf dem Balkan abgedankt. Obwohl sich in den letzten ein-zwei Jahren die Dinge etwas geändert haben, wäre eine Aktualisierung unserer Agenda nötig. Über mehrere Jahre hatte auch der 2008 gegründete Ausschuss für Streitfragen seine Arbeit eingestellt. Mittlerweile ist er wieder aktiv und befasst sich mit den Problemen der thrakischen Flüchtlinge, den Besitztümern des bulgarischen Exarchats, mit sozialen und vielen anderen Fragen, deren Lösung im Interesse unserer beiden Staaten ist. Hochaktuell sind dabei unsere bilateralen Beziehungen in den Bereichen Energiewirtschaft, Sicherheit, Schwarzmeerkooperation und nicht zuletzt auch die Flüchtlingsfrage – alles wichtige und ernstzunehmende Themen, die eine aktive Zusammenarbeit zwischen unseren beiden Ländern voraussetzen“, sagte abschließend Ljubomir Kjutschukow.
Übersetzung: Rossiza Radulowa
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