Am 14. Oktober vor genau 100 Jahren erklärte Bulgarien seinen Eintritt in den Ersten Weltkrieg. Das geschah unmittelbar nach den zwei Balkankriegen – der Erste brachte Bulgarien einen glorreichen Sieg, der Zweite eine nationale Katastrophe.
Die Entscheidung des bulgarischen Herrschers Zar Ferdinand, Bulgarien am Weltkrieg teilnehmen zu lassen, wird heute als ein politischer Fehler betrachtet. Doch damals sahen die Dinge anders aus, zumal große Teile ethnisch-bulgarischen Territoriums weiterhin unter fremder Macht standen. Laut Dr. Lisbeth Ljubenowa vom Institut für Geschichtsforschungen der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften war die Lage äußerst kompliziert.
Jüngst entdeckte Dokumente des Privatarchivs des damaligen Premierministers Wassil Radoslawow weisen darauf hin, dass er bis zum letzten Augenblick versucht habe, den Eintritt Bulgariens zum Weltkrieg zu verhindern. Unmittelbar nach dem Zweiten Balkankrieg 1913 begannen Gespräche, in denen Radoslawow auf eine sogenannte „bewaffnete Neutralität“ Bulgariens bestand. Als sich langsam die zwei Hauptlager des künftigen Krieges abzeichneten, wurde mit beiden verhandelt, um für die Neutralität Bulgariens eine Entschädigung zu erwirken. Man visierte eine Einigung mit den jenseits der Landesgrenzen verbliebenen ethnisch-bulgarischen Landesteilen an.
„Die diplomatischen Verhandlungen waren äußerst langwierig und kompliziert“, erzählt Dr. Ljubenowa. „Aus den Dokumenten ist ersichtlich, dass die bulgarische Regierung bis zuletzt versucht hat, den Kriegseintritt abzuwenden. Radoslawow hat sich die Dinge in gewisser Weise recht naiv vorgestellt – er meinte, dass die Großmächte, die sich in gegenseitige Kämpfe verstricken werden, schließlich ermüden würden. Und sobald sich das Ende des Krieges andeute, wollte Radoslawow die Frage nach Mazedonien auf den diplomatischen Tisch legen. Und da niemand mehr Lust haben würde, weiterzukämpfen, würde auch das Problem um die Landesvereinigung gelöst sein. Das klang aber zu schön, um wahr zu sein. Die Provokationen begannen recht früh – mit Schusswechseln an der bulgarisch-griechischen Grenze; die Türkei versuchte ebenfalls, eventuelle territoriale Entschädigungen für die Neutralität an den Eintritt Bulgariens auf Seiten Deutschlands zu binden. Unmittelbar vor dem Oktober 1915 traf in Sofia schließlich eine Note ein, in der Bulgarien angehalten wird, sich endlich zu entscheiden, auf wessen Seite es sich in dem Krieg stellen werde. D.h. weder die Großmächte, noch die Nachbarn Bulgariens ließen uns in Ruhe. Bulgarien blieb also keine andere Wahl…“
Warum entschied sich Bulgarien aber ausgerechnet für die Mittelmächte?
„Als Bulgarien in den Krieg trat, hatte es das damalige Kräfteverhältnis eingehend analysiert“, erläutert die Geschichtswissenschaftlerin. „Es ist aber bemerkenswert, dass fast alle bulgarischen Diplomaten von der Niederlage Deutschlands überzeugt waren. Der Krieg weitete sich aus und wurde auch jenseits des Alten Kontinents geführt; Deutschland besaß aber nicht die nötigen Ressourcen, besonders zu Wasser. Dort dominierte Großbritannien und später auch die USA. Deutschland siegte hingegen auf den Fronten zu Lande. Es hatte zu einem Zeitpunkt sogar den Anschein, dass die Mittelmächte immer unnachgiebiger werden würden. Die Entente war von der Kapitulation der Festung Antwerpen und der schnellen Einnahme Belgiens bestürzt. Als Bulgarien seinen Kriegseintritt erklärte hatte Deutschland die russischen Truppen zurückgeworfen. Es hatte gezeigt, dass es über Kampfressourcen verfüge und wenigstens zu Lande siegen könne, trotz vieler verlorenen Kolonien in China und Afrika.“
Im Ersten Weltkrieg verzeichnete Bulgarien etliche Siege – auf den Fronten in Mazedonien, der Dobrudscha, dem Morava-Becken u.a. Die Niederlage war aber vorausbestimmt, denn Verlierer waren die Mittelmächte, denen sich Bulgarien angeschlossen hatte. Auch war laut Dr. Ljubenowa die Kriegsbegeisterung am Ende des Krieges nicht die gleiche wie zu Beginn, oder wie in den Balkankriegen zuvor, in denen direkt um die bulgarische Einigung gerungen wurde. Bulgarien wurde ferner wirtschaftlich in Mitleidenschaft gezogen, da sich der Krieg in die Länge zog. Man war nicht mehr in der Lage, die Soldaten an den Fronten richtig zu ernähren. Die unzureichende Versorgung führte zu Krankheiten. Zudem haperte es auch an guter Ausrüstung...
Insgesamt 115.000 bulgarische Soldaten und Offiziere mussten ihr Leben lassen. Der Erste Weltkrieg brachte Bulgarien erneut eine nationale Katastrophe: Von 113.920 Quadratkilometer Fläche, die Bulgarien 1915 besaß, ging infolge des Vertrages von Neuilly seine Flache auf nunmehr 103.146 Quadratkilometer zurück. Diese territorialen Verluste waren es aber nicht allein, die das Land schwächten; schwerer als sie wog der Umstand, dass trotz des Krieges die ohnehin offenen Fragen nicht gelöst werden konnten und ihre Lösung in noch weitere Ferne rückte denn je. Dazu kamen Reparationslasten, die für das kleine Land untragbar waren, verschärft durch den unabsehbaren Flüchtlingsstrom, der aus den abgetrennten Gebieten mittellos und hoffnungslos in das Land floss.
Eine der Lehren, die wir daraus ziehen können ist, dass es der bulgarischen Politik wie so oft an Weitsichtigkeit gefehlt hat. Man fiel von den einstigen Höhen und stürzte hinab in die nationalen Katastrophen, was sich aber auf das Volksbewusstsein negativ auswirkte – die Bevölkerung wurde zutiefst fatalistisch. Man begann sich nicht mehr so sehr um das Gemeinsame, das Nationale zu kümmern, sondern mehr um das eigene Überleben, das nicht mehr von einem selbst, sondern von den Großmächten abhängig schien. Die Bulgaren machten einen erneuten Schritt auf dem Weg des „politischen Sichtreibenlassens“.
Deutsche Fassung: Wladimir Wladimirow
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