Ein 59jähriger stürmt zum zweiten Mal in einer Woche mit Kumpanen in die Theater- und Filmhochschule in Sofia, und legt sich mit Studenten und Professoren an. Am späten Sonntagabend, als in der Hochschule letzte Theaterproben zu Ende gehen, beschuldigt er die wenigen anwesenden angehenden Schauspieler, sie würden Marihuana verkaufen. Er sei gekommen, um den Drogenhandel zu unterbinden. Die Studenten und der Rektor der Hochschule fordern ihn höflich auf, zu gehen. Er macht aber großen Rabatz, es kommt zu Rangeleien. Die Polizei muss eingreifen.
Ab nun kann die Handlung zwei unterschiedliche Wendungen nehmen. Ist der 59jährige ein Durchschnittsbürger, wird er von der Polizei festgenommen, vernommen und anschließend von der Staatsanwaltschaft verklagt. Ist der 59jährige Randalierer aber Mitglied des Parlaments und Vorsitzender einer Parlamentspartei, dann genießt er Abgeordnetenimmunität und darf von der herbeigerufenen Polizei nicht angerührt werden. Und er wurde nicht angerührt, auch nach zwei Randalen in der Sofioter Innenstadt und trotz laufender Ermittlungen in zwei weiteren Fällen. Der gemeinsame Nenner in all den Fällen ist neben dem besagten Vorsitzenden der parlamentarisch vertretenen rechtsextremen Partei „Attacke“ auch die sich festgesetzte Überzeugung der Augenzeugen aller Spektakel, dass Wolen Siderow jedes Mal stark angetrunken gewesen sein soll. Dem Generalstaatsanwalt reichte es, denn er beantragte einmal mehr die Aufhebung der Immunität des Attacke-Chefs. Darüber hat nun das Parlament zu entscheiden.
Was nun nach dem großen Rabatz mit dem 59jährigen Tatverdächtigen passiert, ist nebensächlich. Das interessiert, grob gerechnet, höchstens 66.000 von insgesamt etwas mehr als sieben Millionen bulgarische Staatsbürger. So viele haben nämlich die rechtsextreme Partei bei den Kommunalwahlen am vergangenen Sonntag gewählt. Der großen Mehrheit der Bulgaren ist viel wichtiger, wie das Parlament auf die missbrauchte, weil stark ausgedehnte Abgeordnetenimmunität reagiert. Das Grundgesetz regelt diesen Schutz: „Abgeordnete der Volksversammlung genießen Immunität, was sie vor Strafverfolgung schützt. Die Polizei darf nur wegen einer mutmaßlichen Straftat ermitteln und einen Parlamentarier verhaften, wenn das Parlament (oder während der parlamentarischen Ferien der Parlamentspräsident) dem zustimmt und die Immunität aufhebt, es sei denn, er wird unmittelbar am Tatort einer schweren Straftat festgenommen.“ Zitatende.
Dieser überschwängliche Schutz der Volksvertreter hat seine Vorgeschichte – der Text des Art. 70 wurde 1991 verabschiedet, als die Demokratie in Bulgarien noch jung und unerfahren war. In den ersten Nachwendejahren war eigentlich der Text im Art. 69 viel wichtiger, der besagt, dass ein Abgeordneter zu keiner Zeit wegen seiner Abstimmung oder wegen einer Äußerung im Parlament gerichtlich oder dienstlich verfolgt werden darf. Die Redefreiheit ist in Bulgarien mittlerweile nicht gefährdet, aber was tun mit randalierenden Abgeordneten, die durch das systematische Getöse nur auf sich aufmerksam machen wollen? Denn darüber sind sich die meisten in Bulgarien einig – die Zwei-Prozent-Partei Attacke schafft den Sprung ins Parlament nur wegen der Skandale, die ihr Vorsitzender am Vorabend von Wahlen unbestraft veranstaltet. Und dieses sich seit Jahren wiederholende Schauspiel wollen insbesondere die jungen Menschen in Bulgarien nicht länger dulden.
Das ist aber nicht alles. Denn der Radau von Siderow wird seit zehn Jahren von allen heute im Parlament vertretenen großen Parteien geduldet. Sie haben mit ihm geflirtet, weil sie allein keine Mehrheit bilden konnten. Die Sozialisten haben ihn gebraucht, um ihre im letzten Sommer zum Sturz gebrachte Regierung Orescharski immerhin anderthalb Jahren an der Macht zu halten. Und auch die heutige Regierungspartei GERB neigt dazu, die Stimmen der Attacke-Abgeordneten dankend entgegen zu nehmen. Das letzte Mal liegt gar nicht so weit zurück – die groß angekündigte Justizreform hätte ohne die Stimmen der Rechtsextremen wohl nicht eingeleitet werden können. Von den Medien erst gar nicht zu sprechen – trotz mehrerer Aufrufe, den Skandalpolitiker zu ignorieren, machten sie ihn selbst in der Wahlnacht zur Schlagzeile.
Ein randalierender, offensichtlich betrunkener Abgeordnete und die lächerlich machtlose Polizei rund herum sind kein schöner Anblick. Es fällt schwer zuzugeben, dass der Möchtegern-Führer nichts weiter ist, als die Missbildung der eigenen politischen Elite. Umso wichtiger ist es, die versäumten Hausaufgaben nachzuholen, die verfassungsmäßige Ohnmacht abzuschaffen und die ausgedehnte Abgeordnetenimmunität wieder in einen gemäßigten Umfang einzudämmen.
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