Am 1. November begeht Bulgarien den Tag der Volksaufklärer. Im ganzen Land gedenkt man jener, die mit Wort und Tat geistige Führer Bulgariens waren.
Zum ersten Mal wurde dieser Tag im Jahre 1909 in der südbulgarischen Stadt Plowdiw begangen. Wenige Jahre später schlug eine Gruppe angesehener bulgarischer Intellektueller vor, diesen Tag als landesweiten Festtag zu feiern. Der Vorschlag wurde angenommen – 1922 erklärte das Parlament den Tag zum gesetzlichen Feiertag. In der Verordnung lesen wir: „Der 1. November soll ständiger nationaler Feiertag werden, der im Angedenken an all jene Bulgaren begangen werden soll, die in nationaler und kultureller Sicht zu Aufstieg und Prosperität beigetragen haben“. Mit Erlass des Zaren Boris III. vom 1. November des Jahres 1923 wurde der Ehrentag in den gesamtbulgarischen Festtagskalender eingetragen.
Was veranlasste die Intellektuellen Bulgariens, auf einen solchen Feiertag zu bestehen? Mit dieser Frage wandten wir uns an Prof. Plamen Mitew, Dekan der Geschichtsfakultät der Sofioter Universität „Heiliger Kliment von Ohrid“.
„Die Idee zur Einrichtung eines speziellen Festtages für die Volksaufklärer muss man im bulgarischen Nationalgedächtnis suchen“, ist der Geschichtsprofessor überzeugt. „Als Volk sind wir schnell dazu geneigt, jene Menschen zu vergessen, die mit ihren Taten für die geistige Emanzipation der gesamten Gesellschaft beigetragen haben. Nach einer Reihe von nationalen Katastrophen erwies sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Besinnung auf das Nationalgedächtnis mehr als notwendig. Aus diesem Grund vereinten sich die Intellektuellen des Landes und schlugen einen Festtag vor, der speziell den Volksaufklärern gewidmet werden sollte.“
In seinen „Gedankenfragmenten und Sentenzen“ hielt der Schriftsteller Stojan Michajlowski (1856-1927) fest, dass man gegen jedwede Tyrannei kämpfen müsse, sei es auch die Tyrannei der „unaufgeklärten Freiheit“. In Bulgarien beruft man sich oft auf die Intellektuellen der Wiedergeburtszeit, doch inwieweit verstehen wir sie?
„Leider verfallen wir immer in Schablonenhaftigkeit, wenn wir über unsere nationale Wiedergeburt und die Persönlichkeiten sprechen, die das Antlitz jener Epoche prägten“, sagt Prof. Plamen Mitew. „Wir betrachten jene Periode scholastisch und vergessen allzu schnell die Lehren, die sie uns hinterlassen hat und die wir vor allem in den ersten Jahrzehnten nach der Neugründung des bulgarischen Staates hätten verarbeiten müssen. Die Wiedergeburt ist eine Zeit, über die wir anscheinend viel wissen; wenn wir aber ehrlich sein müssen, wissen wir doch viel zu wenig über sie. Ganz nach alter Gewohnheit bewerten wir die Volksaufklärer, ohne jedoch ihre konkreten Taten unter die Lupe zu nehmen und ihren realen Beitrag für unsere Geschichte zu analysieren.“
Der Revolutionär Georgi Rakowski führte bereits im 19. Jahrhundert das Fehlen des so dringend benötigten Selbstvertrauens auf die Unkenntnis der eigenen geschichtlichen Wurzeln zurück. Können wir heute, mehr als anderthalb Jahrhunderte später, behaupten, dass die Bulgaren ihr Selbstwertgefühl auf der Geschichte aufbauen?
„Heutzutage wird die Geschichte vieler politischer Laborversuche unterzogen“, ist Prof. Plamen Mitew von der Sofioter Universität überzeugt. „Obwohl wir die politische Lesart der Geschichte in den Zeiten des Totalitarismus selbst erlebt haben, wollen wir nicht erkennen, dass selbst heute, im augenscheinlich demokratischen Bulgarien, die Geschichte genauso einer Manipulation ausgesetzt wird und ganz offensichtlich konkrete politische Interessen bedient. Rakowski ist auch heute noch überaus aktuell, weil wir unsere Geschichte viel zu einseitig sehen. Wenn wir objektiv in unseren Einschätzungen sein wollen, müssen wir die Scheuklappen ablegen und ohne Ideologeme und Mythologeme das Geschehen in den Jahrhunderten betrachten, um uns tatsächlich als ein europäisches Volk zu fühlen.“
Wie könnte man heutzutage die Volkspsychologie durch das Prisma der geschichtlichen Prüfungen deuten, die wir zu bestehen hatten?
„Leider wird die Volkspsychologie der Bulgaren sehr von der fünf Jahrhunderte währenden osmanischen Fremdherrschaft beeinflusst“, analysiert der Geschichtsprofessor. „In jener Zeit besaßen wir weder eine Elite noch einen Staat und das hat in den nachfolgenden Generationen seine bleibenden Spuren hinterlassen. Wir zweifeln am Staat und sehen ihn nicht als den unsrigen an. Das hat sich unmittelbar in den ersten Jahrzehnten nach der Befreiung negativ ausgewirkt und wirkt sich selbst heute noch aus. Wir diskutieren eifrig über die Politik in den Kaffeestuben und auf der Straße, wenn wir jedoch Farbe bekennen müssen, verstecken wir uns. Auch lassen wir uns schnell von der Haltung der Großmächte, in denen wir Brüder zu erkennen glauben, sei es Russland, Europa, oder den USA beeinflussen. Auch das ist typisch für die Volkspsychologie, die aus den Zeiten der Türkenherrschaft herrührt, als wir keine Elite hatten, die politische Traditionen hätte schaffen können. Leider ereigneten sich in unserer neueren Geschichte aller 40 bis 50 Jahre radikale soziale Wandel, bei denen die Macht zufälligen Personen in den Schoß fiel. Und das alles ist Teil dessen, was sich in Bulgarien bereits seit mehr als 500 Jahren ereignet“, ist Prof. Plamen Mitew, Dekan der Geschichtsfakultät der Sofioter Universität „Heiliger Kliment von Ohrid“ überzeugt.
Übersetzung: Wladimir Wladimirow
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