„...Wie habe ich dich gehasst, verabscheut und verachtet!...
Bis ich dich eines Tages zufällig im Gefängnis-Krankenhaus sah – am Bett deines verlorenen Sohnes, den das Gesetz verurteilt und die Gesellschaft verstoßen hatte.
Er war voller eitriger Wunden, verlassen und allein.
Du wurdest neben ihm ohnmächtig.
Mit Tränen wuschst du seine Wunden, küsstest seine aussätzigen Gesichtszüge, verfluchtest die Erde und den Himmel.
Da verstand ich dich, verzieh dir und kniete neben dich nieder.“
So endet die Erzählung „Die Frau“ von Georgi Stamatow. Am 9. November 1942 verlor Bulgarien einen seiner großen Schriftsteller – ein Meister der Kurzgeschichte. Heute erinnert sich fast keiner mehr an Stamatow. Zu seiner Zeit war er populär, heute jedoch ist er so gut wie vergessen. Nur ein enger Leserkreis spricht über ihn, denn er wird nicht einmal in der Schule behandelt. Warum das so ist, erfahren wir aus den Betrachtungen eines anderen Schriftstellers des 20. Jahrhunderts, der dem breiten Publikum ebenso wenig bekannt ist. Atanas Daltschew meinte: „Jeder Stil stellt einen Kompromiss zwischen individuellen und allgemein anerkannten Ausdrucksformen dar. Sobald er lediglich aus den Erstgenannten besteht, riskiert er unverstanden zu bleiben. Beschränkt er sich jedoch nur auf die Zweitgenannten, ist er bereits eine Schablone und kein Stil.“
Der Stil von Georgi Stamatow gehört zweifellos zu den Ersteren. Er liegt jenseits der traditionellen Ausdrucksformen und Strukturen einer Erzählung. Er sprengt die Grenzen des Traditionellen mit seiner scharfen, teilweise fast zynischen Sprache, mit seiner Ironie gegenüber den menschlichen Schwächen, die zuweilen in Sarkasmus übergeht, mit seinem Pessimismus.
Georgi Stamatow wurde am 25. Mai 1869 in Tiraspol, Transnistrien, in einer bulgarischstämmigen Familie geboren, die jedoch erst spät – im Jahre 1882 wieder in die Heimat zurückkehrte. Stamatow behielt Zeit seines Lebens einen russischen melodischen Akzent bei. Und noch eine Besonderheit: Fast jeden Satz seiner Prosa beginnt auf einer neuen Zeile; damit verleiht er dem Geschehen eine zusätzliche Dynamik. Die Phrasen sind straff, muten wie Aphorismen an und entbehren Überflüssiges. Die Erzählungen gehen psychologisch in die Tiefe, ohne jedoch im Abgrund der Erlebnisse der Helden zu wühlen, sondern durch straffe Schilderung ihrer Handlungen. Offen und ehrlich, jedoch vorwitzig betrachtet er die ihn umgebende Welt.
„Er nannte die Dinge und selbst Personen beim Namen und wenn sich die Gelegenheit bot, sagte er es ihnen ins Gesicht, ganz vorbehaltlos. Diese Tugend machte ihn gefährlich und unerwünscht. Es mochten ihn vor allem jene nicht, denen er nicht viel Gutes sagen konnte.“ So charakterisierte ihn ein Zeitgenosse, der Kritiker Iwan Meschekow. Georgi Stamatow ließ sich nicht ins Zeug pfuschen – er hörte weder auf Redakteure noch Kritiker; die Sujets und Motive wählte er selbst und nahm auch keine Korrekturen in seinen Texten vor.
Dabei gehört Stamatow zu jenen Schriftstellern, die die Literatur eher als Hobby betrachten. Zuerst schlug eine militärische Laufbahn ein und wurde Offizier. Dann studierte er Jura an der Sofioter Universität und wurde als Richter in verschiedenen Städten Bulgariens eingesetzt. Aus diesen zwei Bereichen schöpfte er etliche der Themen seiner späteren Erzählungen. Über seine Arbeit als Richter erzählte der Schriftsteller Wladimir Poljanow folgende Begebenheit:
„In der Stadt wird ein Mord begangen. Der Mörder wird gefasst und vors Gericht gestellt. Als Richter wird Stamatow benannt. Am Vorabend des Verfahrens erhält er ein Schreiben, verfasst von jenem, der den Mord bestellte und der in der Stadt das Sagen hatte, der so schaltete und waltete, wie es ihm recht war, ungeachtet der Gesetze und der Stadtväter. Der Richter wird angewiesen, den Fall zu vertuschen und das Verfahren einzustellen. Am Tag darauf tritt der Richter vor dem überfüllten Saal und zeigt nicht die leiseste Spur von Wankelmütigkeit. Stamatow verliest vor der Menge den Brief, den er Tags zuvor erhalten hat und eröffnet das Verfahren, obwohl ihm der Tod angedroht wird.“
Als Georgi Stamatow 1928 in den Ruhestand ging, siedelte er sich in Sofia an und setzte seine schriftstellerische Tätigkeit fort, mit der er in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts begonnen hatte. Er schrieb Gedichte, vor allem aber Erzählungen und veröffentlichte in den verschiedensten Zeitungen und Zeitschriften. Eines seiner Hauptthemen war die Beziehung zwischen Mann und Frau, gebrochen durch das Prisma seines eigenen Schicksals. Der Mann einer befreundeten Familie und seine Frau verlieben sich – Stamatow sucht die Schuld bei sich und verlässt kampflos das Feld. Das Glück seiner Frau ist ihm wichtiger, als seine eignen Gefühle. Ihr einziges Kind, eine Tochter, ist auf seiner Seite und zieht mit ihm weg. Sie verkraftet jedoch die Trennung ihrer Eltern nicht, findet keinen Trost und begeht Selbstmord. Auch hierfür sucht Stamatow die Schuld bei sich – die Einsamkeit wird zu seiner einzigen Begleiterin bis zu seinem Lebensende...
Deutsche Fassung: Wladimir Wladimirow
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