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Kilian Kleinschmidt: Die Zukunft der Menschheit ist eine vermischte Gesellschaft

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Als Leiter des Flüchtlingslagers Zaatari hat Kilian Kleinschmidt auch EU-Parlamentspräsident Martin Schulz empfangen.
Foto: Privat

Kilian Kleinschmidt berät die österreichische Bundesregierung in Flüchtlingsfragen. Und ist der richtige Mann dafür, denn er hat Erfahrung – Kleinschmidt war mehr als 20 Jahre lang für das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) rund um den Globus tätig, zuletzt als Leiter des Flüchtlingslagers Zaatari an der syrisch-jordanischen Grenze mit knapp 80.000 Bewohnern. Der 53jährige passionierte Entwicklungshelfer glaubt, es sei selbstverständlich möglich, eine problemlose Aufnahme von Flüchtlingen zu organisieren.

Kilian Kleinschmidt lässt es nicht beim Blick auf die akute Flüchtlingskrise bewenden. Die einseitige Globalisierung sei der Kolonialismus unserer Tage, sagt der erfahrene Krisenhelfer, und fordert eine gezielte Entwicklungshilfe als Investition in Menschen und Strukturen. Das kommt allerdings bei vielen europäischen Bürgern nicht an, die zunehmend Angst vor einer Überrumpelung verspüren. In den meisten europäischen Ländern, die Flüchtlinge empfangen, haben zahlreiche freiwillige Helfer den größten Teil der Arbeit geleistet. Das reicht aber Kilian Kleinschmidt nicht aus.

"Was bisher nicht der Fall war, ist, dass die Bürger das auch in die Politik haben einfließen lassen, was sie dort erlebt haben, was ihre Gedanken sind. Die einzigen, die wir hören, sind leider diejenigen, die meinen, dass wir von fremden Menschen überfallen werden. Diejenigen, die begriffen haben, dass es um Menschen und Schicksale geht, dass es um eine globale Solidarität geht, die wir selber jeden Tag auch zeigen können, sind immer noch in der Minderheit."

"Wir schaffen das", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel, und viele Europäer, vor allem in den Ländern auf der sog. Balkanroute, werfen ihr vor, zu naiv gewesen zu sein. Mit der Verschärfung des Asylrechts rudert Deutschland nun zurück. In Europa werden Grenzzäune gebaut, Schweden führt Grenzkontrollen wieder ein, Österreich hat es bereits getan. Kilian Kleinschmidt behauptet aber dennoch, es sei unproblematisch diese Flüchtlinge aufzunehmen. Es brauche dazu aber neben dem politischen Willen auch die Expertise von Fachleuten.

"Das eine ist eine logistische Aufgabe und ich kann nicht verstehen, warum wir das nicht meistern können. Allerdings ist natürlich verständlich, dass die Anpassung von so vielen Menschen nicht einfach ist. Das ist das Problem und da sind wir natürlich noch nicht vorbereitet, obwohl gerade in Deutschland ein großer Bedarf an zusätzlichen Menschen besteht."

Kilian Kleinschmidt fordert mehr Chancen für die Menschen in den Krisengebieten zur Teilhabe am Weltwirtschaftsystem. Darüber hinaus stellt er klar, dass die Integration von Einwanderern nicht gelingen könne, wenn sie immer nur als einseitige Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft verstanden werde. Die Industrie sei gefordert – allein in Deutschland können 60.000 Leerstellen nicht besetzt werden, sagt Kleinschmidt. Die Industrie kann sich aber die fehlenden Fachkräfte aus den Krisenländern nicht einfach bestellen.

"Da muss die Industrie endlich investieren, darum geht es nämlich auch. Dass die Industrie sich nicht, wie es einmal gesagt wurde, die Perlen aussucht. Es geht hier darum, dass die Industrie ihre wirtschaftliche Rolle wichtig und ernst nimmt. Aber es geht auch darum, und das ist der Schritt nach vorne, endlich ein anderes Management der Migration weltweit einzuleiten."

In Afrika sind viel mehr Migranten untergekommen, als in Europa, weiß Kilian Kleinschmidt aus eigener Erfahrung. Und auch in Asien, Amerika, Südamerika gibt es massive Migrationbewegungen. Deshalb fordert er ein neues Management der Migrationströme, indem man legale Wege schafft und nicht auf die illegale Migration wartet, wenn letztendlich nur kriminelle, illegale Strukturen finanziert und unterstützt werden. Europa scheint aber noch nicht soweit zu sein. Wird die EU daran zerbrechen, weil die Politik des Durchwinkens weitergeht?

"In Europa schießt im Augenblick jeder Politiker aus der Hüfte und es gibt nun wirklich keine gemeinsame Linie. Selbst innerhalb der verschiedenen Parteien gibt es große Unterschiede. Wir sehen leider nur die rechtspopulistischen Parteien, die eine Linie haben, nämlich zumachen, ausgrenzen und die Burg verteidigen. Aber es gibt auch die anderen, die der Meinung sind, dass wir zwar die Burg verteidigen müssen, aber mit offenen Toren, so dass Menschen hinein und heraus kommen, so dass wir in unserer Burg nicht ersticken, verhungern und verdursten. Bisher gibt es keine gemeinsame Linie, aber ich glaube nicht, dass die EU daran zerbrechen wird. Ganz im Gegenteil – sie wird irgendwann erkennen, dass das eben nicht ein kurzfristiges Symptom von Ungerechtigkeit in der Welt ist, sondern dass es wirklich darum geht, es auf die Weltbühne zu bringen und auch andere Kontinente und Nationen dazu bringt, Solidarität zu bekunden und an einer globalen Lösung zu arbeiten."

Nach Kilian Kleinschmidts Vorstellung muss nicht jeder als Flüchtling anerkannt werden, denn es gehe um Migration, wo jeder die Möglichkeit haben sollte, eine sichere Zukunft und Bildung für seine Kinder zu bekommen. Diese Beweggründe haben aber auch viele Bulgaren und Rumänen genannt, als sie sich nach der Arbeitsmarktöffnung 2014 in Deutschland niedergelassen haben. In den Medien werden sie aber "Armutsflüchtlinge" genannt. Geht es also nicht in erster Linie um die Überwindung der Unterschiede im Lebensstandard innerhalb der EU und der Welt?

"Ja, genau, und ich meine, das ist auch irgendwo möglich. Gleichzeitig muss man wiederum erkennen, wo wir heute in Bulgarien, in Sofia stehen, dass es selbst hier Möglichkeiten für andere Menschen aus anderen Regionen gibt. Wir werden in eine Richtung gehen müssen, wenn wir anerkennen müssen, dass die Zukunft der Menschheit eine vermischte Gesellschaft ist, eine Mischung von Nationen, von Kulturen. Ich sage immer wieder, man muss sich anschauen, wenn man in Manhattan durch die Straßen läuft, dass jeder anders aussieht, jeder aus einem anderen Kulturkreis kommt. Wir werden in einer Zeit der Urbanisierung leben, wenn 75 Prozent der Weltbevölkerung in ein paar Jahren in Städten leben werden. Da müssen wir ganz anders denken. Staatlichkeit wird durch Stadtlichkeit ersetzt. Städte werden die Zukunft sein. Städte sind immer eine Mischung aus verschiedenen Menschen gewesen, und da müssen wir auch akzeptieren, dass sie eine andere Hautfarbe und eine andere Religion haben, die sich bei uns in unsere Städte hineinmischen."



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