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Neue Bürgerinitiative fordert "Justiz für alle"

Initiative "Justiz für alle"

"Ich frage mich manchmal, welchen Sinn es überhaupt hat, eine Justiz zu unterhalten, wenn sie ohnehin nur Freisprüche produziert? Sollten wir nicht besser die ein Paar Millionen für diesen Justiz-Zirkus aus dem Staatshaushalt streichen und für etwas Sinnvolleres ausgeben?"
So lautet einer der vielen Kommentare im Netz nach einem mehr oder weniger überraschenden Freispruch in dieser Woche. Das Sofioter Stadtgericht hat den früheren Vizeparlamentschef und stellvertretenden Vorsitzenden der einflussreichen Wirtschaftspartei DPS Hristo Bisserow in allen drei Anklagepunkten freigesprochen. Es geht um mutmaßliche Geldwäsche und Steuerhinterziehung in großem Umfang. Ein Freispruch, der übrigens zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt kommt, nämlich am Vorabend des regulären Fortschrittsberichts der EU-Kommission über Bulgarien in den kriselnden Bereichen Inneres und Justiz.

Trotz des Freispruchs zweifelt wohl niemand in Bulgarien, dass Hristo Bisserow Geld gewaschen und Steuern hinterzogen hat. Viel mehr zweifelt man an der Glaubwürdigkeit des Gerichts, denn das gleiche Sofioter Stadtgericht, das den einflussreichen Ex-Parteifunktionär freigesprochen hat, hat zuvor Eigentum im Wert von über 750.000 Euro gesperrt, mit der Begründung, dass es auf illegalem Wege erworben worden ist. Dafür liegt also genügend Beweismaterial vor, für eine Verurteilung reicht das aber nicht aus? Die Richterin im Sofioter Stadtgericht erlaubte sich den leisen Kommentar, dass die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft gewisse Lücken aufweise. Es wäre nicht das erste (und leider nicht das letzte Mal), wenn diese Lücken mehr oder weniger absichtlich entstehen. Dafür spricht auch die "Entstehungsgeschichte" des Bisserow-Skandals: Zuerst erreichte die Medien der völlig überraschende Rücktritt Bisserows aus allen Posten. Drei Tage später gab die Staatsanwaltschaft bekannt, dass sie Ermittlungen gegen ihn einleitet. Wurde er also vorgewarnt? Eine fast rhetorische Frage...

Wäre der Fall Bisserow ein Einzelfall, würde sich die Öffentlichkeit in Bulgarien nicht so aufregen. Viel mehr handelt es sich aber um einen Regelfall. Fast alle Prozesse gegen einflussreiche Politiker und Wirtschaftsleute beginnen mit einer lautstarken Medienoffensive, ziehen sich über Jahre, um möglichst von der Öffentlichkeit vergessen zu werden, um mit einem Freispruch zu enden, obwohl sie in Brüssel besonders unter die Lupe genommen werden.

Deshalb machte eine Bürgerinitiative nun mobil für eine Justizreform – hier und jetzt. Nach gesammelten mehr als 5000 Unterschriften hat die Initiative "Justiz für alle" sieben konkrete Forderungen ins Parlament eingebracht und sie auch dem Staatspräsidenten Rossen Plewneliew präsentiert. Im Vorab sei gesagt, dass alle Forderungen im Parlamentsausschuss abgelehnt worden sind. Die Eckpunkte betreffen radikale Änderungen in der Staatsanwaltschaft. Die mentorartige Überwachung der Arbeit der Staatsanwälte durch den Generalstaatsanwalt soll wegfallen, sowie dessen Amtszeit von sieben auf fünf Jahre reduziert werden. Ein neuer Vizegeneralstaatsanwalt soll sich völlig unabhängig der Korruptionsbekämpfung annehmen. Und noch etwas, was auch ein Anliegen des Präsidenten und des mitregierenden konservativen Reformblocks war: der Oberste Justizrat, das Selbstverwaltungsorgan der Justiz mit dem verfassungsmäßigen Auftrag, ihre Unabhängigkeit zu garantieren, soll seine Entscheidungen nicht länger in geheimer Wahl treffen. Sie erinnern sich: Die halbherzig vom Parlament verabschiedete Justizreform wurde kaputtreduziert und um ihren wichtigsten Punkt gebracht – die Geheimwahl wurde behalten und somit auch die Zweifel, dass die Entscheidungen womöglich nach Druck von außen durchgewinkt werden. Das Anliegen der Bürger ist die Unabhängigkeit der Justiz, einschließlich in Korruptionsfällen, wie im Fall Hristo Bisserow. Ein entsprechender Gesetzrahmen würde die Glaubwürdigkeit des Gerichts zurückbringen, denn eben sie steht auf dem Spiel.



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