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Weihnachtüberraschung: Erschütterungen in der “Bewegung für Rechte und Freiheiten”

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Bislang stand Dogan fest hinter Mestan – zumindest in Worten und Posen.
Foto: BGNES

Der bisherige Vorsitzende der „Bewegung für Rechte und Freiheiten“ (DPS) Lütfi Mestan wurde zu Heilig Abend auf einer Sondersitzung der Bewegung seines Postens enthoben. Am Tag zuvor hatte der ehemalige und seitdem Ehrenvorsitzende Ahmed Dogan seinen Nachfolger bezichtigt, die Bewegung in eine „Fünfte Kolonne“ der Türkei zu verwandeln und Erneuerungen angekündigt.

Die Sondersitzung fiel nicht nur mit dem Beginn des Weihnachtsfestes, sondern auch mit den Gedenkfeierlichkeiten der „Bewegung für Rechte und Freiheiten“ zum sogenannten „Wiedergeburtsprozess“ zusammen, in dem das einstige sozialistische Regime von Todor Schiwkow die Namen der ethnischen Türken in Bulgarien gewaltsam änderte. Anlass für die Kritik an Mestan gab die von ihm vor einem Monat im Parlament verlesene Erklärung, laut der sich die „Bewegung für Rechte und Freiheiten“ im Vorfall mit dem abgeschossenen russischen Militärflugzeug an der türkisch-syrischen Grenze auf die Seite der Türkei stellt. Mestan versicherte, es sei eine gemeinsame Erklärung der Parlamentsfraktion der Bewegung gewesen, doch Ex-Vorsitzender Dogan sieht darin einen persönlichen Fehltritt Mestans, der die nationalen Interessen und die Sicherheit Bulgariens gefährdet habe.

Die Erschütterung in der DPS, die sich auf die ethnischen Türken in Bulgarien als Stammwähler stützt, ist jedoch nur auf den ersten Blick eine innerparteiliche, denn es schalteten sich auch staatliche Behörden beider Länder ein. Mestan betonte in einer seiner ersten Ausführungen, dass ihm kein anderes Land die von ihm verlesene Erklärung zugeschoben habe, was die Staatliche Sicherheitsagentur behaupten würde, wie es Mestan andeutete.

Zwei bulgarische Fernsehsender meldeten, dass der türkische Premierminister Ahmet Davutoğlu seinen bulgarischen Amtskollegen Bojko Borissow per Telefon gebeten habe, sich für den abgesetzten Vorsitzenden der DPS einzusetzen, was jedoch Borissow abgelehnt habe. Diese Meldung wurde offiziell nicht negiert.

Dafür wurde mitgeteilt, dass in Verbindung mit den Erschütterungen in der Türkenpartei, ein inoffizieller Besuch des türkischen Außenministers Mevlüt Çavuşoğlu abgesagt worden sei. Der Minister sollte sich an den Gedenkfeierlichkeiten zum „Wiedergeburtsprozess“ beteiligen. Laut der türkischen Seite sei die Visite auf Bitte des bulgarischen Außenministeriums verschoben worden.

Angesichts der bislang guten bilateralen Beziehungen zwischen Bulgarien und der Türkei ist nicht damit zu rechnen, dass offizielle Ausführungen zu den jüngsten Ereignissen gemacht werden und wenn doch, dann werden sie nur versuchen, die Wellen zu glätten. Das Schweigen der Führung in Bulgarien lässt aber in der Öffentlichkeit des Landes viele Fragen über die Ereignisse in einer Partei aufkommen, die sich die größte liberale politische Kraft Bulgariens nennt.

Wie kann es sein, dass in einer liberalen Partei ihr Vorsitzender auf einer Sondersitzung einfach abgesetzt werden kann und das in seiner Abwesenheit und organisiert vom Ehrenvorsitzenden? Was ist das für eine liberale Partei, in der sich der vorangegangene Vorsitzende Ahmed Dogan zurückzog, nachdem ihm auf einem Parteitag eine Pistole an den Kopf gehalten wurde? Und nun findet sich der abgesetzte Vorsitzende Lütfi Mestan in Begleitung seiner Gattin in der türkischen Botschaft in Sofia ein, die für seine Sicherheit garantieren soll!

In all den Ausführungen aus der DPS werden recht erschreckende Bilder gemalt: Mestan äußerte, er würde die Erklärung in Verbindung mit dem abgeschossenen russischen Militärflugzeug unbeirrt erneut verlesen, selbst wenn man ihm „Tausende Mal den Kopf abschneiden“ sollte. Der Regionalvertreter der DPS, Bahri Ömer, meinte in Verteidigung seines abgesetzten Vorsitzenden, es sei unerhört, Mestan „den Dolch in den Rücken zu stoßen“ und im Serail bei Sofia (dem Sitz von Dogan) „Köpfe abschneiden“ zu wollen.

Außer Ömer stellten sich auch drei DPS-Abgeordnete auf die Seite von Mestan. In der Zwischenzeit fliegen bereits Funken zwischen den Anhängern von Mestan und der provisorischen Parteispitze, die die Bewegung bis zur Wahl eines neuen Vorsitzenden leiten werde. Kasim Dal, der bereits seit einigen Jahren aus der Parteiführung ausgeschlossen wurde, offerierte die Möglichkeit, künftig mit Mestan zusammenzuarbeiten.

Ob nun die Anhänger des gestürzten Mestan eine neue Partei ins Leben rufen werden ist noch unklar. Einige behaupten, dass demnächst darüber erst beraten werden wird; andere hingegen meinen lakonisch, die Zukunft werde es zeigen. Es bleiben viele Fragen offen – eines ist jedoch klar: in der „Bewegung für Rechte und Freiheiten“ hat nach wie vor der ehemalige Parteivorsitzende Ahmed Dogan das Sagen.

Übersetzung: Wladimir Wladimirow



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