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Die Wahl des weniger Schlechten

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Auf dem ersten Blick sitzt die komplizierte Regierungskoalition in Sofia fest im Sattel. Auf dem zweiten Blick wird aber deutlich, dass selbst innerhalb der einzelnen Regierungsparteien Kämpfe ausgetragen werden, die nicht zu unterschätzen sind. Das trifft nicht nur für den Juniorpartner in der Regierung, den Reformblock, zu, sondern auch für die Partei des Ministerpräsidenten Borissow, GERB.

Am Freitag ist Borissows rechte Hand, die Innenministerin Rumjana Batschwarowa, mit ihren Novellen zum Gesetz über das Innenministerium im Parlamentsausschuss für Inneres gescheitert. Obwohl die GERB-Vertreter mit „ja“ gestimmt haben, ließ es sich der frühere Innenminister der Partei und heutiger Fraktionsvorsitzender Zwetan Zwetanow nicht entgehen, nach der Abstimmung zu erklären, dass auch die GERB-Abgeordneten gegen die Reformen sind, sie aber aus Parteiloyalität unterstützt hätten. Die Gesetzesänderungen sollen die seit Jahren fälligen Reformen im Innenministerium einleiten und mit zahlreichen Privilegien aufräumen, was von den Beamten und Angestellten natürlich nicht begrüßt wird. Noch steht Ministerpräsident Borissow, selbst ein Zögling der Polizei, hinter den Reformvorschlägen seiner Ministerin. Vermutlich werden die Novellen trotz der gescheiterten Abstimmung im Innenausschuss doch noch den Plenarsaal erreichen. Was dem insgeheimen innerparteilichen Feind der Innenministerin, Fraktionschef Zwetanow, gar nicht schmecken wird.

Ein innerparteilicher Streit wird auch im Juniorpartner in der Regierung ausgetragen. Der Reformblock, der aus fünf Parteien besteht, wird seit Monaten von einem Zwist erschüttert, nachdem Radan Kanew von den Demokraten für starkes Bulgarien DSB erklärt hatte, er und seine Partei treten in die Opposition. Die GERB-Fraktion stellte dieser Tage dem Ministerpräsidenten Borissow die direkte Frage, warum die DSB in der Regierung geduldet wird. Die Mehrheit der Regierungspartei GERB ist nämlich der Ansicht, dass Kanew und seine Parteifreunde in der Regierungskoalition nichts mehr zu suchen hätten. Es scheint, der Regierungschef ist sich immer noch nicht sicher, ob ein Austritt der DSB ihm Vor- oder Nachteile bringen wird. Und erklärte, angesichts der großen Probleme in Europa, wie Terrorgefahr und Flüchtlingswelle, seien die Streitigkeiten innerhalb des Juniorpartners in der Regierung nebensächlich. Vermutlich aus Parteiloyalität reagierte die GERB-Fraktion darauf nicht mehr.

Der Streit innerhalb des Reformblocks begann zum Jahreswechsel mit dem Rücktritt des Justizministers Hristo Iwanow wegen der gescheiterten Justizreform – ein Hauptanliegen der Reformblockpolitiker, und insbesondere der Demokraten für starkes Bulgarien. Sie stellen übrigens auch den Gesundheitsminister Peter Moskow, der wegen seiner eingeleiteten Gesundheitsreform nun auch in Bedrängnis geraten ist. Die Ärzte haben letzte Woche landesweit protestiert, und die Opposition fordert seinen Rücktritt.

Angesichts so wirrer Regierungsverhältnisse wäre zu erwarten, dass die Unterstützung für die Regierungsmehrheit zurückgehen würde. Umfragen der letzten Tage ergeben aber, dass sich am Kräfteverhältnis nichts geändert hat. Die GERB bleibt mit 24,3 Prozent stärkste Kraft im Land, gefolgt von den Sozialisten mit 13,2 Prozent, belegen die Umfragewerte des Meinungsforschungsinstituts Exakta Research. Noch überraschender ist, dass der Reformblock trotz der Zerstrittenheit seine 5,5 Prozent Vertrauen beibehält.

Die Erklärung ist einfach – die Regierungspartei GERB hat derzeit keine politische Alternative. Die sozialistische Opposition steht vor einem entscheidenden Parteitag, bei dem auch ein neuer Vorsitzender gewählt wird. Und auch die liberale Türkenpartei DPS ist insbesondere nach ihrer Spaltung Ende 2015 keine Alternative. Sie gilt in Bulgarien als Verkörperung der politischen Korruption. Übrig bleiben die nationalistischen Parteien Ataka und die Patriotische Front, die aber wohl kaum als Parteien betrachtet werden können, die das Potential zur Mehrheit im Parlament hätten. Damit scheint die GERB-Partei von Ministerpräsident Borissow tatsächlich alternativlos zu sein. Und so mehrt sich die Überzeugung der Bürger, dass trotz der Nachteile der komplizierten Regierungskoalition sie besser ist, als alle anderen. In Bulgarien ist einmal wieder die Wahl des weniger Schlechten angesagt.

Deutsche Fassung: Vessela Vladkova



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