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Die Infrastruktur ist ein Spiegelbild der Politik

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Foto: BGNES

Der Nordwesten Bulgariens ist die ärmste Region in der Europäischen Union. Das ist die Region in Bulgarien mit dem schlechtesten Straßennetz. Ganz anders sieht es in Süden aus, wo man von einer relativen wirtschaftlichen Prosperität sprechen kann. Nach 42 Jahren Bauzeit verbindet nun endlich die erste komplett fertiggestellte Autobahn in Bulgarien die Hauptstadt Sofia im Westen des Landes mit Burgas an der Schwarzmeerküste. Bis zur Wende gab es in Bulgarien sage und schreibe 130 Kilometer Autobahn. Die durchschnittliche Geschwindigkeit des Autobahnbaus beträgt 5 Kilometer pro Jahr. Zum Vergleich – in Kroatien entstehen jährlich 100 Kilometer neue Autobahnen.

Wer schon einmal über Serbien nach Bulgarien mit dem Auto gereist ist, weiß nur zu gut, wie holprig die letzte Strecke im Grenzgebiet zwischen Nis und Sofia ist: die enge, zweispurige Straße wie ein Fleckenteppich macht sich ganz schlecht als wichtige Verbindung zwischen Westeuropa und dem Orient. Ljubomir Poscharliew von der Justus-Liebig-Universität in Gießen erforscht die Infrastruktur im ehemaligen Jugoslawien und Bulgarien vor der Wende. Ihm zufolge gibt es keine Autobahn zwischen beiden Nachbarstaaten Bulgarien und Serbien aus rein politischen Gründen. Nach der Zwist zwischen dem jugoslawischen Machthaber Tito und dem sowjetischen Diktator Stalin 1948 stellte sich Bulgarien auf der Seite Moskaus. In den Beziehungen zwischen den benachbarten Ländern Bulgarien und Jugoslawien stellte sich die Politik der zum Teil offenen Feindseligkeit ein, was sich unweigerlich auf die Infrastruktur ausgewirkt hat. Und so ist die kürzeste Verbindung zwischen Belgrad und Istanbul durch Sofia bis heute noch nicht fertiggestellt.

Die Infrastruktur ist ein politisches Instrument und unterscheidet sich von der Gesetzgebung und den politischen Beschlüssen kaum“, behauptet der Soziologe Ljubomir Poscharliew. „Mithilfe des Straßenbaus verbindet oder isoliert man unweigerlich bestimmte Bevölkerungsgruppen und Regionen. Durch die Infrastruktur wird deutlich, welche Regionen, Destinationen oder Wirtschaftszweige eine Priorität bekommen sollen. Darüber hinaus zeigt sich, welche Verkehrswege wichtig sind – Gütertransport, Wasserwege, Eisenbahn usw. Der Staat, bzw. die Regierung, setzt somit ihre Prioritäten genauso, wie sie Gesetze schreibt“, behauptet Poscharliew.

Ministerpräsident Bojko Borissow eröffnet Teilstück 2 der Autobahn Maritza. Foto: BGNES
Heute hat Bulgarien den Straßenbau zu seiner Priorität erklärt. Das Ergebnis fällt aber lausig aus. Neben der Autobahn zwischen Sofia und Burgas und der weiteren Verbindung zur türkischen Grenze gibt es in Bulgarien zwei nur teilweise fertiggestellte Autobahnstrecken in Nordbulgarien und zur griechischen Grenze. Jahrzehnte lang wurde der Transport vernachlässigt. „Die Verkehrsinfrastruktur war noch zu sozialistischer Zeit zweitrangig“, behauptet Ljubomir Poscharliew und erläutert:

Wir sprechen von einer Trägheit noch aus der Vorwendezeit, als die Mobilität nicht wichtig, ja sogar zu umgehen war“, sagt Ljubomir Poscharliew. „Das kommunistische Regime hat in seiner Paranoia absichtlich gemieden, die Mobilität der Bürger zu fördern – sei es durch den Straßenbau, durch Investitionen in das Schienennetz oder durch die Verbindung zu entlegenen Regionen des Landes. Und noch etwas – Bulgarien war eines der wenigen Ostblockländer (mit einer Ausnahme von kurzer Dauer) ohne eigene Autoindustrie. Das zeigt sehr deutlich, wie die Mobilität der Menschen gehindert werden sollte. Seit über 50 Jahren gibt es in Bulgarien kein gutes Straßennetz und das hat seine politischen Gründe“, behauptet der Soziologe.

СнимкаDie großen Autobahnprojekte in Bulgarien, die heute in Angriff genommen werden, sind eigentlich alt. Die kommunistische Partei beschloss nämlich 1963 den Bau von drei Autobahnen, der erst elf Jahre später begonnen wurde. Warum stolziert dann der heutige bulgarische Ministerpräsident so gern mit den neuen Autobahnstrecken, die er unentwegt selbst einweiht?

„Das ist ein kluger, ja spitzfindiger Schachzug von ihm, was das Medienbild betrifft“, kommentiert Ljubomir Poscharliew. „Die Autobahn liefert ein mächtiges und medienwirksames Bild ab und spielt mit der Vorstellungskraft der Menschen: der Bau einer Autobahn ist schon beeindruckend. Es entsteht eine neue Straße dort, wo es vorher nichts gab, und man stellt sich schnell vor, wie man mit dem eigenen Auto darüber fährt. Der Autobahnbau ist ein mächtiges Instrument, um die Wähler zu beeinflussen. Das nutzen Politiker gern aus“, sagt Ljubomir Poscharliew.

In seiner Studie stellt der Soziologe fest, dass die Autobahnen in Bulgarien für die Nutzung nur im Inland gedacht sind. Obwohl Bulgarien auch vor der Wende ein Reiseland war, sollten sie nicht erstrangig die Touristen bedienen. Damit ist zu erklären, dass etwa die fertiggestellte Autobahn zwischen Sofia und Burgas in der Hauptstadt und nicht an der Grenze zu Serbien beginnt. Es überrascht aber, dass diese alten Denkmuster bis heute noch Gültigkeit haben. Die einzige Ausnahme bildet vielleicht der 130 Kilometer lange Autobahnteilstück zwischen Sofia und der griechischen Grenze, die aber als Teil eines paneuropäischen Verkehrskorridors noch weit von ihrer Fertigstellung entfernt ist.

So sieht eine langfristige Planung nicht aus“, kommentiert Ljubomir Poscharliew. „Bulgarien scheint, nach wie vor in alten Denkmustern zu ticken und sich selbst von Nachbarländern zu isolieren, die längst keine politischen Feinde mehr sind. Denn der Autobahnbau verrät auch viel über die geopolitische Ausrichtung eines Landes. In dieser Hinsicht überraschend ist vielleicht, dass die Autobahn zur türkischen Grenze gebaut wurde. Das hat allerdings eine rein wirtschaftliche Erklärung, die mit dem intensiven Güterverkehr zwischen beiden Nachbarländern zu tun hat. Denn Bulgarien wollte schon immer zum Westen, und nicht zum Osten gehören“, sagte abschließend Ljubomir Poscharliew.



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