In Nordostteil der Rhodopen befinden sich in unmittelbarer Nähe des Dorfes Malko Gradischte die Überreste eines jahrtausendealten Heiligtums, das die Einwohner dieser Gegend „Die tauben Steine“ nennen. Die ersten Wissenschaftler, die auf diese historische Stätte aufmerksam wurden, waren die aus Tschechien stammenden Brüder Karel und Hermann Škorpil. Sie haben zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Grundstein der archäologischen Forschungsarbeiten in Bulgarien gelegt. Doch erst 2008 begann das Heiligtum seine Geheimnisse preiszugeben, als Prof. Dr. Georgi Nehrizov und sein Team erste eingehende Ausgrabungsarbeiten vornahmen.
„Es ist eine äußerst umfangreiche Anlage, die sich auf einer Fläche von über einem Quadratkilometer erstreckt“, erzählt der Archäologe. „In das Gebiet fallen der Gipfel Heilige Marina, auf dem sich die mittelalterliche Festung Ephrem befand, und die Felsgebilde am östlichen Hang, die unter dem Namen „Die tauben Steine“ bekannt sind.“
Warum nennen die Menschen diese Gegend so?
„Auch wir waren sehr erstaunt, als wir feststellen mussten, dass dort die leiseste Spur eines Wiederhalls fehlt – die Steine schlucken jeden Ton, es gibt kein Echo“, sagt Prof. Nehrizov. „In diesem Jahr haben wir zusammen mit Kollegen vom Institut für Akustik sogar einige Experimente durchgeführt. Sie haben den Eindruck bestätigt, dass die Steingebilde wie ein Dämpfer wirken. Selbst der Schuss einer Pistole ist in 50 bis 60 Meter Entfernung nicht mehr wahrnehmbar. Nun warten wir auf die Ergebnisse der Untersuchungen dieses Phänomens.“
An den Felswänden sind dutzende und aberdutzende Nischen zu sehen. Wann entstanden sie und welchem Zweck dienten sie, fragten wir den Archäologen.
„Felsnischen dieser Art sind für die Ostrhodopen und speziell für den Flusslauf der Arda typisch und stehen mit der Kultur der eins in dieser Region lebenden Thraker in Verbindung; das haben die archäologischen Untersuchungen nachgewiesen“, erzählt Prof. Nehrizov. „Bei den Ausgrabungsarbeiten sind wir bis zu einer Kulturschicht vorgedrungen, die in das Ende des 5. und dem Beginn des 4. Jahrtausends vor Christus datiert wird. Das sind die frühesten menschlichen Spuren an diesem Ort. Wir sind uns immer noch nicht einig, welche Funktion diese Nischen in den einzelnen Epochen gehabt haben, denn in den Nischen selbst wurden nur wenige archäologische Funde gemacht. Auf dem Ausgrabungsgelände kamen vorwiegend Keramikreste und primitive Werkzeuge aus Knochen ans Tageslicht. Zeugnisse aus der Bronzezeit fehlen. Die intensive Nutzung des Objekts begann in der frühen Eisenzeit. Diese Epoche hat eine Kulturschicht mit einer Dicke von zweieinhalb Metern hinterlassen. Sie gibt uns Aufschluss darüber, wie sich das Heiligtum und entsprechend die ausgeübten Kulte entwickelt haben.“
Die Thraker sind dafür bekannt, dass sie für ihre Kultstätten ganz markante Orte gewählt haben, wie Fels-Plateaus und Wände, die sie dann für ihre religiösen Handlungen umgestaltet haben.
„Die Felsnischen sind über 500 an der Zahl“, erzählt weiter der Archäologe. „An diesem Ort befinden sich somit die meisten Nischen in den gesamten Rhodopen. Sie wurden mit Sicherheit zu Kultzwecken genutzt. Ein weiteres häufig anzutreffendes Kultobjekt sind die Feuerstellen. Die Thraker haben an vielen Stellen Feuer entzündet und an ihnen bestimmte Handlungen vollführt, die mit dem Feuerkult in Verbindung standen.“
Prof. Nehrizov, wie auch etliche andere Archäologen vertreten die Ansicht, dass die Nischen möglicher Weise zur Aufnahme von Aschenurnen dienten. Das würde ihre hohe Zahl und ihre Form erklären. Ein Hinweis darauf gibt vielleicht eine in den Felsen geritzte Zeichnung.
„Es ist sehr schwer, die Entstehungsgeschichte einer Ritzzeichnung zu ermitteln, die an einem Felsen angebracht wurde, der Wind und Wetter ausgesetzt ist“, meint vorsichtig der Archäologe, wird aber konkret: „Ich denke, dass es sich um ein Sonnensymbol handelt. Dargestellt ist eine Sonnenbarke, die sich ihren Weg am Firmament bahnt.“
Der diesjährige Ausgrabungssommer wird als besonders erfolgreich eingestuft. Warum?
„An einer der Feuerstellen haben wir eine größere Gruppe von anthropomorphen und zoomorphen Tonfiguren entdeckt“, antwortet Prof. Nehrizov. „Sie sind recht grob angefertigt, in der Darstellung jedoch sehr expressiv. Es sind Frauen- und Männerdarstellungen mit Betonung des Geschlechts; die Tiere ihrerseits können nur schwer identifiziert werden. Unter den Funden sind ferner kleine Gefäße. Solche Gegenstände werden oft an thrakischen Objekten gefunden, doch zum ersten Mal stoßen wir auf eine solch hohe Zahl an einem Ort.“
Die Archäologen sind der Ansicht, dass es sich um Votivgaben handelt und mit ihnen bestimmte Rituale vollführt wurden. Es wird die Möglichkeit eingeräumt, dass sie vor Ort gefertigt wurden, um an die Pilger verteilt zu werden. Ein weiterer interessanter Fund ist eine Buckel-Amphore, die auf besondere Weise dekoriert worden ist – in die Oberfläche wurden ringförmige und dreieckige Vertiefungen angebracht, in die weiße Mosaiksteine mit Hilfe von Teer eingelegt wurden.
Die archäologischen Untersuchungen ergaben, dass der Ort bis zum Ende des 12. Jahrhunderts bewohnt gewesen ist. Zu jener Zeit nahmen die Kreuzritter des Vierten Kreuzzuges die Festung Ephrem ein, die daraufhin verlassen wurde, wie auch „Die tauben Steine“ in unmittelbarer Nähe.
Übersetzung: Wladimir Wladimirow
Fotos: Archiv
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