Ein unerwarteter Schritt von Ministerpräsident Bojko Borissow lenkte die politischen Kommentare in Bulgarien in eine neue Richtung. Anstatt seinen Rücktritt einzureichen, den protestierende Bürger bereits seit über einem Monat fordern, schlug er Veränderungen im Grundgesetz des Landes vor. Unter den Änderungsvorschlägen sind einige recht populäre Forderungen, wie Verringerung der Zahl der Abgeordneten von 240 auf die Hälfte, Einrichtung eines Justizrates der Richter und eines ähnlichen Organs für die Staatsanwälte sowie Auflösung des Obersten Justizrates. Der Verfassungsentwurf der regierenden GERB-Partei sieht ferner die Kürzung der Amtszeit des Generalstaatsanwalts von 7 auf 5 Jahre vor. Außerdem sollen in Wahllokalen von Wahlbezirken mit über 300 Wählern Wahlgeräte aufgestellt werden. Die Bürger sollen jedoch selbst entscheiden können, ob sie mit einer Maschine wählen, oder den traditionellen Wahlzettel ausfüllen. Die Vorschläge zur Änderung des Grundgesetzes wurden bereits ins Parlament eingebracht und können bereits am ersten Arbeitstag der Abgeordneten nach der Sommerpause am 2. September debattiert werden. Für den Vorschlag müssen jedoch erst einmal 121 Abgeordnete stimmen, damit entsprechende Debatten eröffnet werden können.
Die Idee für eine Verfassungsänderung stieß unter den protestierenden Bürgern auf heftige Ablehnung. Sie glauben darin einen Versuch der Regierung zu erkennen, Zeit zu gewinnen und den Rücktritt auf die lange Bank zu verschieben. Die Analysten ihrerseits kommentieren nüchtern die Vor- und Nachteile der unterbreiteten Verfassungsänderungen.
Den Konkurrenten den Wind aus den Segeln nehmen
„Ein starker, jedoch riskanter Schachzug von Bojko Borissow“, meint die Politologin Rumjana Kolarowa. In einem Interview für die Zeitung „24 Stunden“ führte sie an, Borissow zeige mit den vorgeschlagenen Veränderungen im Justizsystem deutlich, dass er einen Kasus lösen wolle, über den bereits seit der Wende zur Demokratie in Bulgarien heftig diskutiert werde und stets die Unzufriedenheit der Bürger wecke. Und das bis heute. Laut Kolarowa nehme Borissow damit die Initiative aus den Händen von Staatspräsident Rumen Radew. Der Vorschlag zur Änderung des Wahlsystems, bei dem die Hälfte der Abgeordneten nach der Verhältniswahl und die andere Hälfte nach der Mehrheitswahl bestimmt werden sollen, werde wiederum seinen Opponenten Christo Iwanow und Slawi Trifonow den Wind aus den Segeln nehmen.
Verfassungsänderungen sollen von gesellschaftlich relevante Fragen ablenken
Der ehemalige Parlamentspräsident Michail Mikow, der aus den Reihen der oppositionellen „Bulgarischen Sozialistischen Partei“ stammt, meinte, „es ist seltsam, dass die Prozedur zur Änderung der Verfassung gegen Ende des Mandats des Parlaments eröffnet wird, wenn alle politischen Kräfte vorgezogene oder reguläre Wahlen erwarten“. Dem BNR gegenüber führte er an, dass „die Interessen der Mehrheit der bulgarischen Bürger auf die sozialen Rechten, die Gesundheitsfürsorge, die Gleichheit und Gerechtigkeit ausgerichtet sind. Meiner Ansicht nach besteht das Ziel darin, die Frage im Zusammenhang mit den Produktionsmitteln und deren Eigentum, der die Bulgaren in der bisher 30jährigen Periode nach der Wende bewegt, durch eine Diskussion über Verfassungstexte oder eines neuen Projekts ersetzt werden soll“, so Mikow.
Bubble Gum für die Massen anstatt Änderung des Parteienmodells
Die ehemalige GERB-Abgeordnete und heutige Richterin Duschana Sdrawkowa kommentierte vor Journalisten des BNR, dass „die Schaffung einer neuen Verfassung eine Frage der Regelung der gesellschaftlichen Beziehungen“ sei. „Wir müssen sehen, ob es neue gesellschaftliche Beziehungen gibt, oder nicht“, sagte sie und fügte hinzu, sie sehe kein Problem darin, dass zur Schaffung eines neuen Grundgesetzes herangegangen wird. Das dürfe jedoch nicht auf eine solche Weise geschehen, wie man es jetzt erlebe. „Jetzt ist es an der Zeit, das lasterhafte Parteienmodell in Bulgarien zu verändern. Die Parteien und deren Funktionäre begreifen nicht, dass sie lediglich ein politisches Instrument zur Umsetzung des Willens der Wähler sind. Sie verstehen sich als „Verteiler von Portionen und Futterkrippen“, wie sich einer unserer Führungspolitiker ausdrückte. Das darf nicht weiter toleriert werden“, fordert entschieden Duschana Sdrawkowa. Sie stufte die Vorschläge zur Änderung der Verfassung als ein „Bubble Gum, gereicht den bulgarischen Wählern in Herabwürdigung ihre Intelligenz und Bildung“ ein. Die Idee zu Verfassungsänderungen sei ihrer Ansicht nach nicht neu und sei immer wieder „durchgekaut“ worden.
Redaktion: Joan Kolev
Übersetzung: Wladimir Wladimirow
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