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20 Jahre nach der Wende in Bulgarien

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Mit dem Plenum des ZK der BKP am 10. November 1989 begann die Wende in Bulgarien

20 Jahre demokratische Veränderungen in Bulgarien sind aus Sicht der Geschichte nur ein kurzer Augenblick. Für das Leben des einzelnen Menschen ist eine solche Zeitspanne jedoch sehr bedeutend. In unserer heutigen Sendung kommen wir auf die letzten 20 Jahre in unserem Leben zu sprechen, die beim Übergang vom Kommunismus zur Demokratie von radikalen Transformationen gezeichnet waren. Mit Hilfe von Dozent Ewgenija Kalinowa aus der Geschichtsfakultät bei der Sofioter Kliment-Ochridski-Universität werfen wir einen Blick auf diese Zeit zurück.
„In Bulgarien kann von Opposition vor dem 10. November eigentlich nicht so recht die Rede sein. Bedauerlicherweise sind wir jenes Land unter den Ostblockstaaten gewesen, in dem sich das Dissidententum am spätesten entwickelt hat. Über organisierte Aktionen von Dissidenten können wir erst nach 1988 sprechen. Die Opposition spielte zwar eine wichtige Rolle beim Sturz von Todor Schiwkow, hatte zuvor aber eigentlich keine großen Verdienste. In den Tagen unmittelbar nach dem 10. November hat sich die Lage jedoch schlagartig verändert. Es wurden oppositionelle Strukturen ins Leben gerufen –die Union der Demokratischen Kräfte und andere unabhängige Vereinigungen. Sie waren ein wichtiger Faktor in der politischen Entwicklung unseres Landes, allerdings nach dem 10. November“, meint Dozent Kalinowa.

Sie sind Mitautor von Büchern über die Wende in Bulgarien. Ist die Zeit der Transformation zu Ende?“

„Diese Frage hat zwei Aspekte – auf der einen Seite wäre die emotionelle Seite, das Massenbewusstsein der Bevölkerung. Die meisten sind der Ansicht, dass die Transformation immer noch nicht so recht abgeschlossen ist, weil sich ihre Erwartungen nicht erfüllt haben. Streng wissenschaftlich und theoretisch gesehen ist sie jedoch meiner Ansicht nach bereits abgeschlossen. Das Ziel der Transformation bestand darin, das Ein-Parteien-System zu sprengen. Das ist auch ziemlich schnell geschehen, bereits in den ersten Jahren nach der Wende. Das Mehr-Parteien-System und die Demokratisierung wurden bereits zu Beginn der Transformation Realität. Politisch gesehen ist die Transformation also zu Ende. Komplizierter sieht es aus wirtschaftlicher Sicht aus, d.h. die Umtransformierung des staatlichen Eigentums in Privatbesitz und die Einführung von Marktmechanismen. Allmählich ist aber auch das geschehen und Bulgarien wurde ein Land mit Marktwirtschaft. Außenpolitisch gesehen wurde unsere Mitgliedschaft am Warschauer Vertrag und am Ostblock durch unseren Beitritt in die NATO und in die EU ersetzt. Von diesem Standpunkt aus können wir sagen, dass die Zeit der Wende in Bulgarien abgeschlossen ist. Eine andere Frage ist natürlich, ob die Menschen mit den Ergebnissen zufrieden sind.“

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10. Dezember 1989: Demonstration der oppositionellen Kräfte am Hl. Alexander Newski-Platz in Sofia


Wir fragten auch den Analysten Antoni Galabow, wie er die letzten 20 Jahre demokratischer Veränderungen sieht:
 
„Unsere erste und wichtigste Bilanz lautet: Bulgarien hat viel Zeit bei der Umsetzung der Reformen verloren, es gab gut organisierte einflussreiche Gruppen, die sich diesen Reformen widersetzt haben. Fünf bis sieben Jahre unseres Daseins sind mehr oder weniger in Reformen drauf gegangen, welche nicht realisiert oder kompromittiert wurden. Andererseits hat sich Bulgarien, wenn auch mit erheblicher Verzögerung, in die Umlaufbahn der Entwicklung der restlichen europäischen Länder gereiht. Von jetzt an müssen wir aber zügig aufholen.“

„Sind die Veränderungen in unserer Gesellschaft auf mehr Enttäuschung oder Zustimmung gestoßen?“

„Schwere und schmerzhafte Folgen für die bulgarische Gesellschaft hatte die soziale Ungleichheit, die als völlig ungerecht aufgefasst wird. Eben deshalb haben wir am Ende dieses 20-Jahre-Intervals eine formelle Fassaden-Demokratie. Real verfügen wir jedoch nicht über jene demokratischen Mechanismen der Machtausübung, der Beteiligung der Bürger daran und der gegenseitigen Kontrolle der Behörden, die die Freiheit eines jeden einzelnen von uns gewährleisten würden.“

„Wer hat gewonnen und wer – verloren?“

„Die Bilanz ist kompliziert. Kurzfristig gesehen ist die frühere Elite der Gewinner. Ich meine damit, es war ein Prozess qualvoller Transformationen und Mutationen des totalitären Regimes, welches von der früheren Elite der Wirtschafts- und Partei-Nomenklatura der BSP dominiert wurde. Es gibt keinerlei Zweifel, dass sie aus kurzfristiger Sicht gewonnen haben. Sie leben mit dem Gefühl, unabwählbar zu sein. Diese 20 Jahre sind von ihren Familien, Clans und Angehörigen durchzogen. Strategisch gesehen verliert jedoch gerade diese falsche und größtenteils sinnlose Gesellschaftsschicht den Wettstreit, da sich herausgestellt hat, dass ihre Kapazität und Anpassungsfähigkeit, ihre soziale und politische Mimikry nicht zu den Eigenschaften gehört, die das Leben heute gutheißt.“
An unserem Gespräch nahm auch die Politologin Dozent Tatjana Burudschiewa teil. Wodurch zeichnet sich, ihrer Meinung nach, die Wende in Bulgarien aus:
„Durch zwei Dinge – einerseits hielten in Bulgarien die Marktmechanismen ziemlich spät Einzug und zwar erst im Jahr 1992. Das bedeutet, dass die liberale Demokratie, die in den Ländern Europas dominiert, bei uns mehr oder weniger gehemmt funktioniert, nur mit einzelnen Elementen. Die zweite Differenz ist, dass wir als Gesellschaft in unserem Streben, Mitglied der EU und der NATO zu werden, uns im Unterschied zu den anderen ex-sozialistischen Staaten überhaupt nicht mit den drei Typen der Effizienz der Gesellschaft auseinandergesetzt haben – der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Effizienz, mit deren Hilfe wir jene Demokratie als Lebensqualität und Wirtschaftsentwicklung erreichen können, nach der wir alle streben. In Bulgarien ist das leider nicht passiert.“

„Haben wir in diesen 20 Jahren nicht auch Erfolge zu verzeichnen?“

„Ja, wir haben Erfolge, doch das Problem ist, dass es Erfolge im Rahmen der Fassadendemokratie sind. Es gibt demokratische Institutionen, es gibt ein funktionierendes Parteiensystem und eine Marktwirtschaft, es gibt gewisse Formen von Sozialschutz und reale Lösungen zum Schutz der Interessen unterschiedlicher sozialer Gruppen. All das mutet aber wie ein Stückwerk an.“

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4. Oktober 1990: Ein Hubschrauber bringt den Stern aus Rubin vom Dach des Parteipalastes in Sofia weg.


Schiwko Todorow war erst acht Jahre alt, als die Wende in Bulgarien eintrat. Mittlerweile ist er Volksabgeordneter und vertritt im Parlament die regierende GERB-Partei. Er hat das Fach Europäistik absolviert. Wir fragten ihn, ob sich die jungen Leute mit der Vergangenheit Bulgariens auseinandersetzen?

„Mit Sicherheit interessieren sich die meisten jungen Leute für die Vergangenheit. Anlass dazu liefert unsere Lebenslage und alles, was über diese 20 Transformationsjahre erzählt wird. Es ist logisch, dass man sich als junger Mensch die Frage stellt, woher man stammt und wohin es gehen soll. Deshalb schauen wir auf die Zeit vor 1989 zurück und versuchen uns auszumalen, wie das Leben damals gewesen ist. Wir vergleichen es mit unserem jetzigen Dasein und machen uns Gedanken darüber, wonach wir streben. Zugleich sind uns jungen Leuten die Laster des Regimes vor 1989, als es weder eine Demokratie noch eine Markwirtschaft gegeben hat, sehr wohl bewusst. Auch die jetzigen Freiheiten, die wir unserer EU-Mitgliedschaft und der sich globalisierenden Welt zu verdanken haben, hat es seinerzeit nicht gegeben. Deshalb ist es für uns schwer vorstellbar, wie abgekapselt das Leben damals in Rahmen eines einzelnen Staates gewesen ist, im Rahmen einer einzigen Partei und auch die Ausrichtung der Gedanken der Menschen in eine einzige Richtung. Umso mehr wissen wir die jetzige Lage zu schätzen, die Reise- und Meinungsfreiheit und die Freiheit dort zu lernen und zu arbeiten, wo wir gern möchten. Nun verfügt ein jeder von uns über weitaus größere Möglichkeiten als früher“, meint der Abgeordnete Schiwko Todorow.

Übersetzung: Rossiza Radulowa

По публикацията работи: Anelia Zonkowa


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