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Ein heftiger politischer Donnerstag

Foto: BTA

Der Regierungsrücktritt ist perfekt. Der Präsident hat blitzschnell Beratungen mit den Parlamentsparteien durchgeführt, um die Möglichkeiten für die Bildung eines neuen Kabinetts im Rahmen des jetzigen Parlaments auszuschöpfen. Die bürgerliche GERB und die Sozialisten haben auf den Regierungsauftrag verzichtet. Das soll auch die Partei der türkischen Minderheit DPS auch tun. Und dann wäre der Weg für die vorgezogenen Parlamentswahlen am 5. Oktober frei.

Der gestrige Donnerstag hat so viele Nachrichten geliefert, wie schon lange nicht mehr. Nach fast einem Jahr politischer Krise, begleitet von allerlei Skandalen und Auseinandersetzungen, hoffen nun alle in Bulgarien auf einen Neuanfang. Der zurückgetretene Ministerpräsident Plamen Orescharski bezeichnete seine einjährige Amtszeit als schwierig, verwies aber auf einige Erfolge in der Wirtschaft und der Sozialpolitik. So seien rund 40.000 neue Arbeitsplätze geschaffen worden, die Renten und das Muttergeld wurden erhöht. Was konnte sein Kabinett nicht erreichen?

„Leider hatten wir keine ausreichende politische Unterstützung und keine Zeit, um wichtige Strukturveränderungen vorzunehmen“, sagt Orescharski. „Besonders akut sind sie im Gesundheitswesen, in der Bildung und in der Verwaltung. Und noch etwas – es gibt keine Angaben, dass sich die Finanzlage des Landes während unserer Amtszeit verschlechtert hätte. Persönlich bereue ich dieses eine Jahr nicht. Ministerpräsident zu sein war für mich an erster Stelle eine Ehre und eine riesige Verantwortung“, betonte Plamen Orescharski.

Die bisherigen Koalitionspartner in der Regierung – die Sozialisten und die liberale DPS, haben die Arbeit des Kabinetts erwartungsgemäß gewürdigt. Dennoch warfen sie sich gegenseitig vor, für das vorzeitige Scheitern der Regierung verantwortlich zu sein. Der sozialistische Fraktionschef Atanas Merdschanow kritisierte aber auch die bürgerliche Opposition.

„Dieses Parlament wird aufgelöst, aber nicht, weil es nicht arbeiten kann, sondern weil die GERB-Fraktion es boykottiert“, behauptet Merdschanow. „Die bürgerliche Partei wollte keine Opposition sein und verhielt sich verantwortungslos. Die Kritik war selten politischer Art, sondern eher persönlich und derb. Vergessen wir nicht, dass der GERB-Vorsitzende den Ministerpräsidenten des Landes einen Pseudo-Experten nannte. Das Parlament und die Regierung hätten eine längere Amtszeit, wäre der Koalitionspartner nicht vorzeitig abgesprungen“, kommentierte der sozialistische Fraktionschef.

Dem „friendly fire“ blieb der Vorsitzende der türkischen Minderheitspartei DPS, Ljutwi Mestan, nicht schuldig.

„Die Behauptungen, die Regierung habe eine Katastrophe herbeigeführt, sind inakzeptabel“, sagte Mestan. „Solche Behauptungen gehören im besten Fall zum Wahlkampf, der noch nicht begonnen hat. Viel wichtiger erscheint mir aber der Blick nach vorn, aber das setzt eine Vergangenheitsbewältigung voraus. Bulgarien braucht eine Veränderung und das deutlichste Signal dafür waren die Ergebnisse bei der Europawahl. Sie haben den Regierungsrücktritt herbeigeführt, auch wenn die Wahlergebnisse nicht der einzige Grund dafür sind. Das Kabinett ist nicht einzig und allein wegen der DPS gescheitert, die ihre Unterstützung entzogen hat. Für unsere Partei ist die Macht kein Selbstzweck“, betonte Mestan.

Der Vorsitzende der bürgerlichen GERB-Partei Bojko Borissow bezeichnete den Rücktritt der sozialliberalen Regierung als verspätet. Im Gegensatz zu den Parteichefs der gescheiterten Regierungsparteien würde er den Posten des Ministerpräsidenten einnehmen, sollte die GERB die Neuwahlen im Herbst gewinnen, denn nur so trage man in der Politik die Verantwortung.

„Der Regierungsrücktritt verwandelte sich in eine Agonie“, erklärte Borissow im Parlament. „Tagelang quälte uns das Kabinett, wann es endlich den angekündigten Rücktritt ins Parlament einreicht. Und stundenlang dauerte die Debatte vor der endgültigen Abstimmung im Parlament. Aus ihren Äußerungen bleibt man mit dem Eindruck, dass alles in Ordnung war. Warum haben sie dann erneut die Wahlen verloren? Warum treten sie dann zurück? Die Parlamentswahlen vor einem Jahr hat die GERB eindeutig gewonnen. Und trotzdem haben sie keine bürgerliche Regierung unterstützt, sondern sich für eine prinzipienlose Koalition entschieden. Die EU-Wahl war das Strafzettel“, meint Borissow.

Nach dem Rücktritt der Regierung sieht die Verfassung vor, dass der Präsident die Parlamentsparteien mit der Bildung eines neuen Kabinetts im Rahmen des jetzigen Parlaments beauftragt. Bei Beratungen Ende Juni einigten sich die führenden politischen Kräfte darauf, auf den Regierungsauftrag zu verzichten. Daran haben sich bereits die GERB und die Sozialisten gehalten.

„Die Parlamentsparteien halten daran fest, dass im Rahmen des jetzigen Parlaments keine regierungsfähige Mehrheit möglich ist“, erklärte Staatspräsident Rossen Plewneliew am Donnerstag. „Deshalb schreiten wir zur nächsten möglichen Lösung fort – vorgezogenen Parlamentswahlen am 5. Oktober. Darauf haben wir uns bereits Ende Juni geeinigt“, erinnerte Plewneliew.

Der nächste Schritt wäre die Auflösung des Parlaments, gefolgt von der Ernennung der Interimsregierung durch den Staatschef. Sie bleibt bis zu den vorgezogenen Wahlen im Amt.

Redaktion: Vessela Vladkova




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