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Ein Kilo Güte

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Foto: Foto: Bulgarische Lebensmittelbank

Haben Sie nicht auch manchmal das Gefühl, dass wir in einer Welt leben, die den Namen Absurdistan verdient? Ist es nicht wirklich absurd, dass jedes Jahr im Weltmaßstab mehr als 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel einfach weggeworfen werden, manchmal, weil die Tomaten nicht rot genug und die Gurken nicht richtig gerade sind, während 850 Millionen Menschen ständig hungern? Überraschenderweise macht auch Bulgarien, das als „Armenhaus Europas“ gilt, da keine Ausnahme. Auch hier werden pro Jahr 640.000 Tonnen Lebensmittel einfach weggekippt oder verbrannt, was 90 bis 100 Kilogramm pro Kopf der Bevölkerung ausmacht, während 1,5 Millionen Bürger dieses Landes an oder unterhalb der Armutsschwelle leben.

Einen möglichen Ausweg aus diesem Wahnsinn hat der Amerikaner John van Hengel gefunden und das schon 1967 – er gründete damals die erste so genannte „Food Bank“, um überschüssige Lebensmittel an Bedürftige weiterzugeben. Diese „Lebensmittelbanken“ haben sich nicht nur in den USA, sondern in den letzten 30 Jahren auch in Europa verbreitet, in Deutschland gibt es sie seit 1993 – bekannt als „Die Tafeln“, in Österreich gibt es seit 1999 die „Wiener Tafel“ und ähnliche Organisationen unter verschiedenen Namen und in der Schweiz heißen sie „Tischlein deck dich“.

Seit drei Jahren gibt es auch in Bulgarien Ansätze dafür – so lange funktioniert nun die erste Lebensmittelbank hier, die es nach eigenen Angaben schafft, rund 260 Tonnen Lebensmittel pro Jahr vor der Vernichtung zu bewahren und sie an Bedürftige zu verteilen.

Das ist aber weniger als 1 Prozent der gesamten Menge, die vernichtet wird“, sagte in einem Interview für Radio Bulgarien die Geschäftsführerin der Bulgarischen Lebensmittelbank Zanka Milanowa. Ihren Worten zufolge gibt es dafür viele Gründe: es fehlen Traditionen in der Wohltätigkeit und der freiwilligen Einsätze und die gesetzlichen Bestimmungen für den Transport und die Lagerung von Lebensmitteln sind sehr streng und hindern die Leute daran, Lebensmittel zu spenden.

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Im vergangenen Jahr organisierte die Lebensmittelbank mit Hilfe mehrerer Supermarktketten in ihren Filialen zweimal die Kampagne „Ein Kilogramm Güte“. Im Zuge der beiden Ausgaben der Kampagne kauften und spendeten insgesamt rund 6000 Leute etwa 17 Tonnen Lebensmittel wie Reis, Bohnen, Linsen, Nudeln, Öl, Mehl und Zucker.

Das sind gut verpackte Lebensmittel, die wir nicht anderswoher erhalten können, weil sie sich in der Regel gut verkaufen und eine lange Mindesthaltbarkeitsdauer haben“, erläutert Zanka Milanowa. Ein weiteres ernsthaftes Problem ist ihr zufolge, dass Bulgarien wohl das einzige europäische Land ist, in dem es keine gesetzlichen Regelungen gibt, die Lebensmittelspenden erleichtern.

Ein Lebensmittelhersteller oder ein Händler, der beschließt, Lebensmittel zu spenden, anstatt sie zu vernichten, muss trotzdem 20 Prozent Mehrwertsteuer zahlen“, so die Leiterin der Bulgarischen Lebensmittelbank. „In vielen Fällen handelt es sich um Lebensmittel, die nicht abgesetzt wurden oder sie sehen für den Großhandel nicht gut genug aus oder sie wurden irgendwie falsch verpackt oder es gibt irgendwelche Probleme mit den Etiketten. Diese Lebensmittel wären von Interesse für uns, doch es fällt uns meist sehr schwer, die Hersteller oder Händler zu überzeugen, sie uns zu geben, weil es wegen der Steuer für sie viel, viel billiger ist, sie zu vernichten, selbst im teureren Fall von Fleisch- und Wurstwaren, die in Verbrennungsanlagen entsorgt werden müssen“, sagt Zanka Milanowa.

Aus diesem Grund versuchen die Leute von der Bulgarischen Lebensmittelbank, eine Änderung im Mehrwertsteuergesetz zu erwirken, um Lebensmittelspenden von der Steuer zu befreien.

Zu den größten Spendern gehören derzeit die großen Supermarktketten. Sehr aktiv sind auch die Hersteller von Molkereiprodukten:

„Im vergangenen Jahr waren 42 Prozent aller Lebensmittelspenden, die zu uns gekommen sind, Milch, verschiedene Molkereiprodukte und Desserts“, sagt Zanka Milanowa. „Weißer Salzlakenkäse ist da noch wenig darunter, doch wir erwarten, dass es mehr wird. Ein anderer großer Teil der Spender sind kleinere Obst- und Gemüsehändler hier in der Nähe, weil unser zentrales Logistik-Lager sich auf dem Gelände des Obst- und Gemüse-Großmarktes in Sofia befindet. Mit der Unterstützung von Freiwilligen besuchen wir zweimal wöchentlich jedes Warenlager der Händler. Sie kennen uns und den Markt sehr gut und geben uns alles, von dem sie schon wissen, dass sie es kaum absetzen können, weil es zum Beispiel nicht so gut aussieht oder die Qualität etwas schlechter ist. Mit unserer großen Anstrengung trennen wir dann zum Beispiel Obst und Gemüse, das schon etwas angefault ist, von dem, das noch gut ist und so kommen die Lebensmittel dann schon am selben oder spätestens am nächsten Tag zu bedürftigen Kindern und Jugendlichen“, sagt die Chefin der Bulgarischen Lebensmittelbank.

Mithilfe eines Netzes von Partnerorganisationen kommen die von der Lebensmittelbank geretteten Lebensmittel zu behinderten oder elternlosen Kindern, alleinlebenden älteren Leuten, alleinerziehenden Müttern und zu kinderreichen Familien, zu Drogen- und Alkoholabhängigen oder Opfern von Gewaltverbrechen. Seit zwei Jahren unterstützt die gemeinnützige Organisation auch aktiv die Ausländer in den Aufnahmezentren. Die Lebensmittelbank brachte auch Nahrungsgüter in die im vergangenen Jahr von schweren Überschwemmungen betroffenen Gebiete Bulgariens.

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Eine sehr wichtige Rolle spielen dabei die Freiwilligen – vor allem Leute im aktiven Lebensalter. Darunter sind auch viele IT-Spezialisten und Anhänger einer gesunden Lebensweise, viele Schüler und auch Leute im Rentenalter. „Eine 70-jährige Dame ist unsere älteste Freiwillige. Sie ist auch schon am längsten dabei und eine wichtige Kraft in unserem Logistik-Lager“, sagt Zanka Milanowa.

Walja, die Modedesignerin von Beruf ist, hilft ebenfalls als Freiwillige mit. Wie ist sie dazu gekommen?

Vor einigen Jahren habe ich die Organisation im Facebook entdeckt. Ich hatte viel Freizeit und mir gefiel die Idee, Obst, Gemüse und andere Lebensmittel vor der Vernichtung zu bewahren und an sozial schwache Menschen und an Kinderheime zu verteilen. Die Arbeit hier macht mir Spaß, die Leute von der Lebensmittelbank sind sehr motiviert und geben das auch an die Freiwilligen weiter“, sagt Walja.

Übersetzung: Petar Georgiew

Fotos: Bulgarische Lebensmittelbank


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