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Die Massenvernichtung der Armenier – 100 Jahre später*

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Foto: EPA / BGNES

„Die Geschichte ist Geschichte; die Opfer bleiben Opfer!“ Mit dieser Formulierung vermied der bulgarische Premierminister Bojko Borissow, das Wort „Genozid“ in den Mund zu nehmen, Minuten bevor das Parlament am 24. April der Gräueltaten an den Armeniern im Osmanischen Reich zwischen 1915 und 1922 mit einer Erklärung gedachte, in der von „Massenvernichtung“ die Rede ist.

Was geschah am 24. April vor genau 100 Jahren? Die Tragödie begann in Konstantinopel in der Nacht zu Ostern, als die Jungtürkenbewegung ihren Plan zur Massenvernichtung der Armenier innerhalb des Osmanischen Reiches in die Tat umsetzte. Warum gerade die Armenier in dem Vielvölkerstaat?

Bereits in der Zeit des Sultans Abdülhamid II. in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts brachten die Armenier wie alle anderen unterdrückten Völker im Osmanischen Reich ihren Willen nach Autonomie zum Ausdruck. Der Berliner Kongress von 1878 machte jedoch alle ihre Hoffnungen zunichte und überließ die Armenier einer systematischen Verfolgung und Vernichtung, nachdem Russland von den Großmächten Österreich, Deutschland und Großbritannien gezwungen wurde, sich aus den armenischen Gebieten zurückzuziehen, die im Zuge des russisch-türkischen Krieges von 1877/78 besetzt worden waren. Die Jungtürken beschuldigten die Armenier, die Erzfeinde des Imperiums – die Russen, tatkräftig unterstützt zu haben, wofür sie büßen sollten. Zudem erwiesen sich die Armenier als Hürde vor den osmanischen Türken, ihr Reich auf alle Turkvölker über den Kaukasus und Mittelasien bis nach China auszudehnen. Naheliegend war eine physische Vernichtung der Armenier. Man begann mit der Elite. In nur wenigen Montanen wurden Tausende Intellektuelle, darunter Ärzte, Journalisten, Kleriker und Aufklärer ermordet. Daraufhin wurden nahezu 60.000 Armenier, die für das osmanische Heer mobilisiert worden waren, entwaffnet und hingerichtet. Es folgten Massendeportierungen und die Abschlachtung der armenischen Bevölkerung im ganzen Reich, vor allem alte Menschen, Frauen und Kinder. All diese Aktionen waren gut durchdacht und organisiert. Selbst Talât Pascha, einer der Ideenväter des Massenmordes an den Armeniern, äußerte dem damaligen US-Botschafter Henry Morgenthau gegenüber, dass „die Aussiedlungen ein Ergebnis langer und vertiefter Überlegungen“ seien. Als Vollstrecker der Verbrechen wurden verurteilte Mörder, kurdische Söldner und Baschi-Bosuks – irreguläre Truppen des Osmanischen Reiches, eingesetzt. Damit versuchten sich die Jungtürken der Verantwortung an den Morden zu entziehen. Die ethnische Säuberung kostete von insgesamt drei Millionen Menschen dieses Volkes rund anderthalb Millionen Armeniern das Leben. Laut geheim gehaltenen Dokumenten des türkischen Innenministeriums wurden zwischen 1915 und 1917 ca. 972.000 von 1.256.000 Armeniern als Vermisst gemeldet. Einige Armenier konnten sich nach langen Strapazen in Syrien in Sicherheit bringen. Auch britische und französische Schiffe nahmen Flüchtlinge auf.

Nach Bulgarien flohen etwa 30.000 Armenier. Die türkische Regierung sandte zwei Mal eine Note gegen die Aufnahme der Armenier, doch Bulgarien ließ sich davon nicht einschüchtern. Im Gegenteil! Zar Ferdinand I. gab einen speziellen Erlass zur Aufnahme der armenischen Flüchtlinge heraus. Die bulgarische Öffentlichkeit schuf ihrerseits die notwendigen Bedingungen, um die Integration der Armenier zu erleichtern – man half, armenische Schulen und Kirchen zu errichten und bot ihnen Arbeit an. Die Erinnerungen an das türkische Joch waren noch lebendig und die Bulgaren empfanden tiefes Mitleid mit den armenischen Opfern und Flüchtlingen. Seitdem sind jedoch viele Jahre vergangen und die Bulgaren von heute wissen kaum noch etwas von der Massenvernichtung der Armenier, obwohl die Nachfolger der Flüchtlinge weiterhin Bulgarien als dem „Land der Rettung“ dankbar sind. Die Gräueltaten vor 100 Jahren sind aber auch aus einem ganz andern Grund in Vergessenheit geraten – es ist das schlechte Gewissen einiger Länder, die weiterhin die Wahrheit verschweigen wollen…

Die Tatsachen über die Ereignisse von damals, die Schicksal und Denken von Generationen von Armeniern grundlegend verändert haben, sind jedoch mehr als überzeugend. Allein im Staatsarchiv der USA werden rund 4.000 Aussagen von Angestellten des US-Außenministeriums aufbewahrt, angefangen bei Konsuln in den entferntesten Teilen des Osmanischen Reiches bis hin zum Botschafter in Konstantinopel Henry Morgenthau. Ihre unvoreingenommenen Beschreibungen der blutigen Ereignisse ergänzen und bestätigen sich gegenseitig und belegen den Vernichtungsplan der Jungtürken. In den Zeiten des Ersten Weltkrieges bezeichnete der US-Präsident Theodore Roosevelt die Gräueltaten an den Armeniern als „das größte Verbrechen während der Krieges“ und die „ausbleibenden Handlungen gegen die Türkei“ als „seine Rechtfertigung". Unzweideutig ist auch die Haltung Frankreichs, Russlands und Großbritanniens, die 1915 in einer gemeinsamen Erklärung zum Ausdruck gebracht wurde. Darin ist von „Verbrechen gegen die Menschheit und die Zivilisation“ die Rede, wofür die türkische Regierung verantwortlich sei.

Ein Jahrhundert später werden jedoch jene düsteren Ereignisse mit „unanstößigen“ Worten umschrieben, während die Spitzenpolitiker der USA und Bulgariens stets einen Anfall von Gedächtnisschwund bekommen, wenn es um die Armenische Frage geht.

Obwohl Ankara unsichere Versuche unternimmt, den Opfern ein Beileid auszusprechen, werden die blutigen Ereignisse weiterhin als Folgen des Ersten Weltkrieges dargestellt. Daher macht es einer Reihe von türkischen Historikern und Intellektuellen alle Ehre, die kein Blatt vor den Mund nehmen und die Wahrheit über die Massenexekutionen sagen. Der international angesehene türkische Schriftsteller Orhan Pamuk gab öffentlich zu, dass „im Osmanischen Reich anderthalb Millionen Armenier abgeschlachtet“ wurden. Vor sieben Jahren unterschrieben rund 200 türkische Intellektuelle eine Petition, in der sie sich für die „große Katastrophe der osmanischen Armenier“ entschuldigten. Dieser Initiative schlossen sich schnell weitere 29.000 Menschen an. Und obwohl die Türkei bemüht ist, dass die Massenmorde an den Armeniern international nicht als „Genozid“ anerkannt werden, verabschieden zunehmend mehr Länder Erklärungen, in denen die Gräueltaten verurteilt werden.

Was Bulgarien anbelangt, so schob das Parlament jahrelang die Unterzeichnung eines solchen Dokuments auf die lange Bank. Schließlich verabschiedete die 43. Volksversammlung nach langen Debatten und „leichten Korrekturen“ mit 157 Ja-Stimmen bei 37 Nein-Stimmen eine Erklärung, in der die blutigen Ereignisse von vor 100 Jahren als „Massenvernichtung“ eingestuft werden. Wenn auch nur wage, ist dieses Bekenntnis als ein Erfolg zu werten. Bleibt zu hoffen, dass die Tatsachen künftig den Politikern über ihren Gedächtnisschwund hinweg helfen!

Übersetzung und Redaktion: Wladimir Wladimirow

*Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wiedergeben.



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