Bei einem Sondergipfel zur Flüchtlingskrise am Sonntag in Brüssel wollten die EU-Staats- und Regierungschefs mit der Türkei einen gemeinsamen Aktionsplan in Kraft setzen. Das Ziel: die ungesteuerte Einwanderung von Flüchtlingen stoppen. Die EU forderte von der Türkei, ihre Grenzen undurchlässig zu machen, ihre Küsten besser zu überwachen und die Lebensumstände für Flüchtlinge im Land zu verbessern, damit sie sich nicht auf den Weg in die EU machen. Im Gegenzug sind die Europäer bereit, die ohnehin geplanten Visa-Erleichterungen für türkische Staatsbürger etwas früher umzusetzen, die festgefahrenen Beitrittsverhandlungen neu zu beleben und drei Milliarden Euro für die Flüchtlingshilfe vor Ort bereit zu stellen.
Die internationalen politischen Beobachter stempelten die gestrigen Gespräche in Brüssel bereits als „Gipfel der Verlogenheit“ ab. Das Treffen des türkischen Premierministers Davutoglu mit den europäischen Regierungschefs erinnerte in der Tat sehr einem Basarfeilschen. Die andauernden Bombardierungen auf Kurden, der Abschuss eines russischen Kampfjets und die fortlaufende Unterdrückung der Medienfreiheit waren kein offizielles Gesprächsthema. Dafür aber die Sicherung der EU-Außengrenzen, und dazu gehört auch die bulgarisch-türkische Grenze, die bis vor wenigen Monaten von Flüchtlingen gern genommen wurde, um über Bulgarien in das gelobte Land Europa zu gelangen. Zu diesem Thema hatte auch die bulgarische Europaabgeordnete Iliana Jotowa im Europaparlament gesprochen.
„Die Sicherung der Außengrenzen ist in der Tat von erstrangiger Bedeutung, und dabei geht es nicht um die Schengen-Grenzen“, betont die Sozialistin. „Ländern, wie Bulgarien, reichen die Mitteln nicht, um diese Sicherheit zu gewährleisten, und davon profitieren nicht nur die illegalen Migranten, sondern auch radikale Islamisten. Beide Themen Flüchtlingswelle und Terrorgefahr sind ganz bestimmt miteinander verbunden. Deshalb ist es wichtig, zu wissen, wer in die EU einreist“, sagt Iliana Jotowa.
Ein anderes brisantes Thema beherrscht die Öffentlichkeit in Bulgarien und hält sie seit Tagen in Atem – der Abschuss des russischen Kampfjets und die daraus resultierenden Folgen für Bulgarien, nachdem Russland weitreichende Sanktionen gegen die benachbarte Türkei verhängt hat. Darüber sprachen wir mit Simeon Nikolow vom Sofioter Zentrum für strategische Sicherheitsforschung.
„Dieses riskante Verhalten der Türkei wird die erzielten Fortschritte bei den Syrien-Gesprächen in Wien ausradieren“, kommentiert Nikolow. „Darüber hinaus sind weitere Folgen zu erwarten, wobei die größte Gefahr die steigende Spannung zwischen Russland und dem Westen wäre. Die Türkei wird den Vorfall nutzen, um wieder Ideen vorzubringen, die bisher wenig Beachtung gefunden haben, wie etwa die Einrichtung einer Sicherheitszone an der türkisch-syrischen Grenze. Das wäre praktisch eine Flugverbotszone, wie Ankara es vor Monaten gefordert hatte. Die Türkei verliert aber an Vertrauen, zumal sie schon immer ein schwieriger Partner für die EU, die USA und die NATO gewesen ist“, meint Simeon Nikolow.
„Der Abschuss des russischen Kampfflugzeugs war nicht durchdacht und dieser Zwischenfall wird nicht das Kräfteverhältnis aus dem Gleichgewicht bringen, sondern die Beziehungen im Nahen Osten“, kommentiert der Sicherheitsexperte Slawtscho Welkow. „Die Reaktionen sind bereits im Gange – auf der politischen Bühne wie auch auf der militärischen und der wirtschaftlichen. Ich schließe den Schwarzmeerraum, zu dem auch Bulgarien gehört, nicht aus. Die Türkei verletzt sowohl den Luftraum als auch die Hoheitsgewässer im Schwarzen Meer sehr oft. Ich bin vom Zynismus der Türkei verwundert, die sich auf dem Völkerrecht stützt. Ich kenne die Gegend des Abschusses sehr gut und muss betonen, dass es in den letzten 15 Jahren mehr als 200 Luftraumverletzungen seitens der Türkei gab – ihre Kampfjets sind bis zu 200 Kilometer ins Landesinneren des Iraks geflogen. Das trifft auch für die türkischen Bodentruppen zu“, sagt der Sicherheitsexperte Slawtscho Welkow.
Der Abschuss des russischen Kampfjets, die Anschlagserie in Paris und die Flüchtlingswelle haben einen gemeinsamen Nenner und das ist die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat. Wie kann er bekämpft, bzw. außer Gefecht gesetzt werden? Auch darüber sprachen wir mit dem Sicherheitsexperten Slawtscho Welkow.
„Die Finanzströme müssen gekappt werden“, sagt Welkow. „Vermutlich finanzieren Saudi Arabien, die Türkei, Katar und weitere 40 Länder den Islamischen Staat indirekt. Erst, wenn diese Geldströme nicht mehr fließen, kann man von einer erfolgreichen Bekämpfung ausgehen. Stellen sie sich nur vor, was mit den 9-10 Millionen Anhängern des Assad-Regimes in Syrien passiert, sollte ISIS siegreich bleiben. Das sind die potentiellen Flüchtlinge, die sich in Richtung Europa ausmachen werden. Die Bekämpfung der Dschihadisten ist für die Türkei keine erstrangige Priorität. Der Türkei geht es um die Kurden. Assads Absetzung ist andererseits keine Priorität für Russland, ganz im Gegenteil – Moskau unterstützt ihn. Bisher ist Assads Absetzung eine Priorität nur der USA“, betont Slawtscho Welkow.
Das bedeutet, dass die Bekämpfung des Islamischen Staates im Moment keine Aussichten auf Erfolg hat, weil sich die Interessen der Großmächte noch voneinander unterscheiden. Wo steht Bulgarien in dieser komplizierten Interessenkonstellation? Dazu Toma Bikow vom Institut für konservative Politik.
„Bulgarien hält an seiner Politik seit zwei Jahren fest“, sagt Bikow. „Bulgarien hat die Überwachung der Grenze zur Türkei, die eine EU-Außengrenze ist, bereits vor zwei Jahren aufgestockt. Wir haben einen Grenzzaun errichtet und dafür viel Kritik geerntet. Nun geht es darum, die Finanzierung des Islamischen Staates zu stoppen, zumindest aus Europa. Es ist höchste Zeit, den Predigern von radikalem Islam in Europa, die Geld aus Saudi Arabien beziehen, Einhalt zu gebieten“, fordert Toma Bikow.Deutsche Fassung: Vessela Vladkova
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