Ende Januar wurde in der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften ein Sammelband mit Volksliedern, Märchen, Überlieferungen, Legenden, Sprichwörtern, Ritualen und Magien sowie Anekdoten und neueren Geschichten vorgestellt, in denen der Drache und all seine verschiedenartigsten Artgenossen im Mittelpunkt stehen. Das Buch ist über 400 Seiten dick und wurde von einem Autorenteam unter der Leitung von Dr. Wichra Baewa zusammengestellt.
„Das Buch entstand infolge eines Projekts, das von einem Team des Instituts für Ethnographie und Folkloristik der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften erarbeitet wurde“, sagte uns die Ethnologin. „Wir – insgesamt 13 Wissenschaftler, haben drei Jahre lang an diesem Buch gearbeitet. Es wurden alte Texte aus Veröffentlichungen und unserem Archiv zusammengetragen, das sehr reich ist. Es wurden auch Privatarchive nach diesem Thema durchforstet. An etlichen Stellen haben wir alte Sprachausdrücke, die heute den meisten Bulgaren unverständlich sind, entweder durch moderne Ausdrücke ersetzt oder erklärt, um dem Leser die alte Welt der Folklore auf verständliche Weise zu erschließen.“
„Mit dem Drachen beschäftigte man sich bereits in den Anfängen der bulgarischen Wissenschaft“, erzählt weiter die Ethnologin Dr. Wichra Baewa. „Die Thematik ist äußerst breit gefächert, sehr interessant und in allen Bereichen der bulgarischen Folklore vertreten. In heutiger Zeit erscheinen die Drachen vor allem in den Witzen, besonders in denen im Internet, die zu der aktiven Folklore gehören. Die Drachen, gefiederten Schlangen, Lindwürmer und alle anderen Vertreter der Drachenfamilie können als Verwandte eingestuft werden, weil es sich bei allen um schlangenartige Geschöpfe handelt. Die Schlange ist ihrerseits ein real existierendes Tier und sie ist ebenfalls mit einer reichen Symbolik behaftet. Sie wurde bereits zu Beginn der Menschheitsgeschichte besonders wahrgenommen. Im Vergleich dazu ist der Drache ein Fabeltier – zumindest wurde bislang das Gegenteil noch nicht wissenschaftlich bewiesen, auch wenn viele Menschen behaupten, Drachen gesehen zu haben und mit ihnen in Kontakt getreten zu sein.
Dem Drachen werden in der bulgarischen Mythologie verschiedene Funktionen zugedacht. Er ist zwar ein Wesen der Unterwelt und besitzt magische Kräfte, kommt aber auch im Himmel vor, weil er Flügel zum Fliegen hat. Er kann Feuer speien und am Himmel als Feuerball wahrgenommen werden. Der Drache hängt genauso aber auch mit dem Wasser zusammen – er haust nicht nur in Höhlen, sondern auch in Brunnen, Quellen und Flüssen. Zuweilen lebt er auf hohen Bäumen im Wald, weshalb man ihn oft als „Zmej Gorjanin“ (zu Deutsch „Walddrachen“) bezeichnet. Der Drache ist überhaupt ein vielgestaltiges Wesen, das im Denken unserer Vorfahren fest verankert war. Das deutet darauf hin, dass es sich um eine alte heidnische Gottheit handeln könnte, deren Urbild im Laufe der Jahrhunderte verlorengegangen ist. Das Christentum hat sie verdrängt, bzw. neu interpretiert.“
In den orthodoxen Kirchen wird die Ikonosthase stets vom Kreuz Christi bekrönt. Zu beiden Seiten stehen Drachen, die es zu schützen scheinen. Was sieht die christliche Religion in den Drachen, fragten wir die Ethnologin.
„Im Christentum ist der Drache eher eine dämonische Gestalt, die dem Teufel nahe steht und mit dem Kampf gegen ihn in Verbindung gebracht wird“, sagt Dr. Baewa. „Das beste Beispiel dafür ist der heilige Georg, der gegen den Drachen kämpft. Dieser Heilige gilt als Symbol des Kampfes von Gut gegen Böse. Er, wie auch alle anderen Heiligen besiegen es mit Hilfe des Glaubens und festigen so die christliche Religion. In den Kirchen entdeckt man allerdings auch die rein folkloristische Auslegung des Drachens, der als Hüter in Erscheinung tritt. Drachenabbildungen kann man ebenfalls über den Eingangstüren der Kirchen entdecken, wo ihnen ebenfalls eine Schutzfunktion zukommt.“
An dieser Stelle sollten wir eine Besonderheit der bulgarischen Drachen hervorheben. Der eigentliche Drache in Bulgarien ist ein Mischwesen – halb Mensch, halb Drache. Er hat einen menschlichen Oberkörper und den schlangenartigen Unterkörper eines Drachens. Zudem hat er an seinem Rücken Drachenflügel. In den alten Chroniken wird er nicht ausschließlich als ein schlechtes Wesen beschrieben. In vielen Dörfern wurde er verehrt, weil er die Dorfbewohner, ihr Vieh und ihre Äcker schützte. Erst wenn sich ein Drache in eines der Mädchen verliebte, brachte das Ärger. Das Mädchen begann abzumagern, wurde apathisch und dachte nur daran, in den Wald oder in die Berge zu gehen, wo der Drache lebte. Meist konnte dem Mädchen nicht geholfen werden und falls der Drache es nicht irgendwann entführte, verschlechterte sich der Zustand der jungen Frau bis sie starb. Falls sie entführt wurde, versuchten die Dorfbewohner den Drachen zu töten, um sie von dem Zauber zu befreien.
Es gibt auch weibliche Drachen, die in den Volksliedern als seine Schwester oder Frau besungen werden. Auch sie können sich in Jünglinge verlieben, was ihnen ebenfalls den Tod bringen kann.
Der große Gegensatz zu diesem Drachen ist der eigentliche Drache, von dem es gleich mehrere Unterarten gibt. Im Bulgarischen heißen die wichtigsten „Lamja“ und „Hala“ und sind beide weiblichen Geschlechts. Diese Drachen regieren die Naturgewalten und können die Saat vernichten. In den Chroniken wird vom Kampf des Drachen gegen diese Geschöpfe berichtet. Solche Kämpfe würden von den Menschen als Gewitter wahrgenommen.
Um die Drachen ranken sich aber auch lustige Geschichten. Dr. Wichra Baewa dazu:
„Für die Folklore ist charakteristisch, dass ernste und heroische Begebenheiten mit lustigen gepaart werden“, sagt die Ethnologin. „Es gibt Märchen über Tölpel und Schwächlinge, die jedoch mit Glück und Verstand das Untier besiegen. Wir haben sogar eine Geschichte aus den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts entdeckt, die zu berichten weiß, dass ein Drache erkrankt und auf die Erde heruntergefallen sei. Die Bulgarische Akademie der Wissenschaften habe sich sofort seiner angenommen, um ihn zu erforschen. Also, die Ergebnisse dieser Forschungsarbeit sind mir unbekannt. Diese Geschichte ist natürlich ein Scherz, verrät aber die reiche Phantasie der Bulgaren. Es ist wirklich sehr interessant und unterhaltend, an solchen Texten zu arbeiten.“
Übersetzung und Redaktion: Wladimir Wladimirow
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