Nach alter Volkstradition eignen sich die Übergänge von einer Jahreszeit zur anderen bestens zum Orakeln. All die magischen Praktiken und Rituale mit Schutzfunktion stammen aus heidnischer Zeit und sind mehr oder weniger in das eine oder andere christliche Fest eingeflossen. Dieser Tage beging man die sogenannten „Wolfstage“, die zu den gefährlichsten im Jahr galten. Die Frauen durften bestimmte Hausarbeiten nicht verrichten, keine spitzen oder scharfen Gegenstände berühren usw. In einigen Dörfern Nordwestbulgariens hat sich die Überlieferung erhalten, dass die Wolfstage am Tag der heiligen Anna zu Ende gehen. Heutzutage wird der Mutter der Jungfrau Maria am 9. Dezember gedacht; nach Julianischem Kalender ist es der 22. Dezember, der Tag der Wintersonnenwende. Daher sagt man bis heute in Südwestbulgarien, dass zum Tag der heiligen Anna, die Sonne nicht höher springe als ein Vogel auf eine Türschwelle. Ihr Tag kennzeichnet den Übergang vom Herbst zum Winter, aber auch das Erstarken der Sonne.
Die heilige Anna wird übrigens an zwei Tagen im Jahr verehrt: im Sommer, von der orthodoxen Kirche am 25. Juli (katholische Kirche am 26. Juli) – das ist der Tag des Entschlafens der Gerechten Anna, und am 9. Dezember, dem Tag der Empfängnis der Allerheiligsten Gottesmutter durch die heilige Anna.
Laut den christlichen Überlieferungen warteten Joachim und Anna, die Eltern der späteren Gottesmutter Maria, lange Jahre vergeblich auf Kindersegen. Schließlich gelobten sie, ihr erstes Kind Gott zu weihen und ihr Kinderwunsch ging nach 20 Jahren in Erfüllung – Anna gebar ein Mädchen, das sie Maria nannten. Unsere Vorfahren sahen in der heiligen Anna eine Beschützerin der schwangeren Frauen, der Kinder sowie der Ehe und Familie. Daher wurde ihr Fest vor allem von Frauen vermerkt.
Die Mädchen orakelten, ob sie im nächsten Jahr heiraten werden. Zu diesem Zweck legten sie jeweils in einen Tontopf mit Wasser Weizensamen, oder steckten darin abgeschnittene Apfel- oder Sauerkirschzweige. Wenn der Weizen bzw. die Zweige zu Neujahr Sprossen zeigten, dann war das ein gutes Zeichen, dass das Mädchen bald unter die Haube kommt. In einigen Dörfern Bulgariens orakelte man mit Hilfe des ersten Besuchers an diesem Tag. Man leitete von dessen Charaktereigenschaften ab, ob es ein gutes oder ein schlechtes Jahr wird, ob als nächstes ein Junge oder in Mädchen in der Familie geboren wird, ob es eine reiche Ernte geben wird u.Ä.
Die Frauen durften am Tag der heiligen Anna weder spinnen, noch weben und überhaupt nicht mit Wolle arbeiten, damit im nächsten Jahr mehr weibliche Schäfchen zur Welt kommen. Man glaubt auch, dass wenn man die einzelnen Verbote einhält, die Herden und Hirten von Wölfen unbehelligt bleiben.
Einige alte Legenden erzählen, dass am Tag der heiligen Anna die Zauberer die Mondsichel vom Himmel holen und sie melken würden. Diese Milch verleihe ihnen die Kraft, die Milch der Kühe und die Legefähigkeit der Hühner zu „stehlen“. Aus diesem Grund ließ man an diesem Tag die Tiere nicht aus dem Stall und rieb sogar die Euter der Kühe mit Knoblauch ein. In all diesen heidnischen Vorstellungen fand man auch einen Platz für die Männer: sie durften am Tag der heiligen Anna nicht aus dem Dorf gehen, denn jenseits der Dorfgrenze würden auf sie böse Feen lauern, um sie zu bezaubern. Aus diesem Grund zündete man am Dorfrand Feuer aus Kuhmist an, die die bösen Geister vertreiben sollten. Die Frauen teilten gekochten Weizen und Mais aus, damit alle gesund bleiben. An diesem Tag wurde gefastet, denn er fällt so und so in die vorweihnachtliche Fastenzeit. Die heilige Anna ehren bis heute vor allem jene, die ihren Namen tragen.
Übersetzung und Redaktion: Wladimir Wladimirow
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