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Russe – das kleine Wien des Balkans, Heimatstadt von Freiheitskämpfern und wohlhabenden Geschäftsleuten

Das Geschichtsmuseum von Russe, entworfen 1882 von dem österreichischen Architekten Friedrich Grünanger als Schloss des Fürsten Alexander I. Battenberg
Foto: ilovebulgaria.eu

Russe gehört zu jenen bulgarischen Städten, deren Geschichte weit zurückverfolgt werden kann. Die Stadt am Ufer der Donau wurde bereits vor Christus besiedelt. Russe ist die Heimatstadt von erfolgreichen Geschäftsleuten, namhaften Intellektuellen und vielen bulgarischen Freiheitskämpfern. 

Nach der Befreiung Bulgariens von der türkischen Fremdherrschaft und dem Berliner Kongress 1878, der Bulgarien in das Fürstentum Bulgarien und Ostrumelien aufteilte, wurde Russe die größte Stadt im Fürstentum. Der rasante Wirtschaftsaufschwung führte zur sichtbaren Veränderung der Stadt. Es entstanden zahlreiche neue Gebäude, deren Architekturstil stark von den damals modernen Barock und Sezession beeinflusst wurde, weshalb die Stadt oft das kleine Wien genannt wird.

Die Eigentümer der neuen Gebäude sind wohlhabende Banker und Geschäftsleute, deren erfolgreiche Geschäfte und Reisen nach Europa und in der Welt ihnen erlaubt haben, enorme Summen zu investieren und das im Ausland Gesehene in den neuen Bauten zu implementieren.

Eines der interessanten Gebäude ist das Hotel des Chicagos“, erzählt Mariana Melnischka in ihrem zweibändigen Werk über das architektonische Erbe Bulgariens, das wie ein Märchen anmutet.

Chicago wurde Solomon Blaustein genannt, der sofort nach der Befreiung Bulgariens nach Amerika reiste und dort viel Geld verdiente. Damit ließ er in Russe ein wunderschönes, großes Gebäude mit vielen Nischen, die mit Mädchenfiguren geschmückt wurden, errichten und verwandelte es in das bestmögliche für eine Stadt am Wasser, ein Hotel mit Cabaret. Der Inhaber engagierte Tänzerinnen aus den anderen benachbarten Ländern an der Donau und damit alles angemessen erschien, brachte er im Parterre eine moderne Schneiderei unter, die „Beim Chicago“ genannt wurde. In diesem Gebäude ließ er auch den ersten von Menschenkraft angetriebenen Fahrstuhl Bulgariens einbauen“, berichtet die Autorin.

Unbedingt zu erwähnen sind auch zwei Wahrzeichen der Stadt, die mehr eine Bedeutung für die Geschichte als für die Architektur haben. Das sind die Häuser von Nikola Obretenow und seiner Eltern Tonka und Ticho Obretenow.

Das Haus der Eltern fiel den Umbauarbeiten von Russe in den 1920iger Jahren zum Opfer. Im Haus von Nikola, des Nachfolgers dieser namhaften Familie, wird heute sein Nachlass aufbewahrt.

Nikola Obretenow ist der letzte aus der Freischar von Hristo Botew, der nach der Befreiung Bulgariens von der türkischen noch am Leben war. Über ihn und seine Rolle in der Freischar werden viele Legenden erzählt. Nach dem Tod von Hristo Botew und der Zerschlagung seines Verbands wurde Obretenow nach Diyarbakır (Türkei) verbannt, wo er die Befreiung Bulgariens erlebte. Nach seiner Rückkehr aus der Verbannung, hatte er die Möglichkeit, wie auch andere Freiheitskämpfer, im neu gegründeten Staat einen hohen Posten einzunehmen.

Nikola Obretenow wurde Volksvertreter und danach Bürgermeister von Russe. Er ließ ein zweistöckiges Haus im neoklassizistischen Stil  für seine Familie bauen, in dem heute ein Museum untergebracht ist“, erzählt Mariana Melnischka und lässt nicht unerwähnt, dass bei den Führungen vor der Wende 1989 andere Geschichten erzählt wurden. Die wahre, tragische Geschichte sei aber eine andere.

Nikola Obretenow hatte eine Tochter Tonka, die mit Niko Prossenitschkow verheiratet war, der seinerzeit in Deutschland Philosophie studiert hatte. Er war Direktor des Männergymnasiums in der Stadt, eines der angesehensten Gymnasien seinerzeit nach diesen in Gabrowo und Swistoff.“

Bald nach dem kommunistischen Putsch in Bulgarien am 9. September 1944 wurde Prossenitschkow, so wie viele andere angesehene Intellektuelle, getötet. Mit ihm wurde auch seine Frau erschossen, die nicht von seiner Seite weichen wollte. Die Familie hatte zwei Töchter. Milkana konnte den Tod der Eltern nicht verwinden und starb, die andere, Liljana, wurde ins Konzentrationslager deportiert, konnte aber trotz aller Qualen, die sie dort erleiden musste, überleben. Im Haus der Familie wurden unbekannte Personen einquartiert, die die Familienbibliothek niedergebrannt und wichtige Dokumente vernichtet haben.

Später, bereits in Freiheit, lernte Liljana den Maler Nenko Balkanski kennen, der nach Russe gekommen war, um ihre Großmutter zu porträtieren. Der Künstler erfuhr von der tragischen Geschichte von Liljana und war von ihrer Schönheit fasziniert. Sie wurde seine Frau, Muse und Modell. 

Übersetzung: Georgetta Janewa

Fotos: ilovebulgaria.eu und Archiv



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