Nahezu 4.700 Organisationen in Bulgarien stufen sich als Sozialunternehmen ein, die 1 bis 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften. Zum Vergleich: In der Europäischen Union macht die soziale und solidarische Wirtschaft zwischen 7 und 8 Prozent der wirtschaftlichen Leistung aus.
Die Corona-Seuche und die nachfolgende Krise werfen die Frage nach einem Überdenken der Rolle des Sozialunternehmertums auf, zumal die „soziale Wirtschaft viel mehr Bereiche erfasst, der Unterstützung benachteiligter Gruppen der Gesellschaft einen größeren Sinn verleiht und sich positiv auf Mensch und Umwelt auswirkt“, wie Iwana Murdschewa von der Nationalen Vereinigung der kleinen Familienunternehmen dem BNR gegenüber sagte. Mit Bedauern konstatierte seinerseits Gawrail Gawrailow von der Universität in Plowdiw in einem Interview für das Inlandsprogramm „Christo Botew“:
„Zum Leidwesen aller hat sich in diesem Jahr alles, was wir über unser Leben wissen, grundlegend gewandelt; das Leben selbst konzentriert sich immer mehr in den Großstädten. In großen Teilen des Landes gibt es keine sozialen Unternehmer bzw. sie warten ab, bis die Krise vorüber ist.“
Der Experte prognostiziert, dass es erst nach Ende der schweren Zeiten viele neue Sozialunternehmer geben werde, die versuchen werden, die Folgen der Krise und das Ausbleiben einer adäquaten staatlichen Politik (nicht nur im sozialen Bereich) auszugleichen. Gawrailow führt als Beispiel den Zusammenhang zwischen dem Kulturtourismus in Stara Sagora und der unweigerlichen Stillegung der Kohleförderung in der Region an.
„Ich fragte Freunde von mir, die in dieser Stadt leben, was passieren werde, nachdem die Kohlekraftwerke geschlossen werden und wie sich das auf den Tourismus auswirken könnte. Sie meinten, dass der Lebensstandard rapid sinken werde, was jedoch der örtliche Tourismus nicht ausgleichen könne. Ich denke jedoch, dass genau dann, wenn diese Prozesse einsetzen, soziale Unternehmer erscheinen und eine Alternative anbieten werden. Ein Großteil von ihnen wird sich wahrscheinlich in der Tourismusbranche ansiedeln, denn nach Stillegung der Kohlekraftwerke wird die Region das Ansehen einer ökologisch sauberen Gegend erringen, die ideal für Urlaub und Spaziergänge mit der Familie sein wird.“
Laut dem Plowdiwer Universitätslehrer hätten sich bereits erste soziale Unternehmer am Horizont gezeigt.
„Man muss jedoch erst einmal sehen, wo die Trennlinie zwischen dem sogenannten kommerziellen Unternehmertum und den Geschäftsleuten liegt, die das Umfeld tatsächlich verändern“, fragt rhetorisch Gawrail Gawrailow und gibt gleich eine Antwort: „Im Gefühl des Glücks bei der Arbeit und über das, was man kommenden Generationen hinterlassen wird.“
„Das soziale Unternehmertum vereint in sich wirtschaftliche Effizienz, sozialen Einfluss auf die ganze Gesellschaft – nicht einzig auf benachteiligte Gruppen und positive Auswirkungen auf die Umwelt“, fügt Iwana Murdschewa hinzu. „Gerade das Erfassen dieser drei Faktoren kann zu einer neuen Vorstellung über die soziale und solidarische Wirtschaft führen und diese zum Nutzen der ganzen Gesellschaft effektiv starten.“
„Der Faktor „Natur“ wird in unserem Leben eine zunehmend größere Rolle spielen“, ist Gawrail Gawrailow überzeugt. Seiner Ansicht nach wurde den Menschen der Kampf zwischen der Mikro- und Makrowelt, zwischen den Viren und den Menschen deutlich vor Augen geführt.
„Momentan herrscht ein großes Defizit an Solidarität“, setzt er fort. „Wir befinden uns in einem elementaren „Urzustand“ – jeder gegen jeden. Die sozialen Beziehungen sind zusammengebrochen und das nicht einzig wegen der Epidemie. Je mehr wir darum bemüht sind, uns wirtschaftlich zu entwickeln, desto arger schädigen wir unsere Umwelt und damit auch die Zukunft unserer Kinder. Und das wirkt sich unweigerlich auf unser Glücksempfinden aus.“
Den Beitrag von Ljubomira Konstantinowa des BNR-Inlandspogramms „Christo Botew“ fasste für uns Diana Zankowa zusammen.
Übersetzung und Redaktion: Wladimir Wladimirow
Fotos: Kyrill Tschobanow und Facebook/Gavrail Gavrailov
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