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Vor dem Start der 50. Volksversammlung

Prof. Gerdschikow: Die Zeit ist reif für ein neues sinnvolles politischen Projekt und für eine Änderung des Wahlsystems

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Prof. Ognjan Gerdschikow
Foto: BTA

Am 19. Juni 2024 nimmt die 50. bulgarische Volksversammlung ihre Arbeit auf. Präsident Rumen Radew hat die neu gewählten 240 Abgeordneten zu ihrer ersten Sitzung einberufen.

Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen haben die Bulgaren für den Einzug von sieben politischen Parteien ins Parlament gestimmt. Die ersten sechs von ihnen waren bereits im vorigen Parlament vertreten, doch der neue „Star“ nach einer Umverteilung der Kräfte ist die Partei „Welitschie“, die mit 13 Abgeordneten im Parlament vertreten sein wird.

Traditionell wird die erste Sitzung des neu gewählten Parlaments vom ältesten Abgeordneten geleitet. Diese Ehre wird dieses Mal Silvi Kirilow von der Partei „Es gibt ein solches Volk“ (ITN) zuteil, der mit seinen 73 Jahren der Doyen unter den Abgeordneten ist.

Auf ihrer heutigen Sitzung sollen die Abgeordneten den Amtseid ablegen und einen Parlamentspräsidenten wählen.


Dieses Parlament wurde nach vorgezogenen Parlamentswahlen gewählt, die wegen der extrem niedrigen Wahlbeteiligung von 34,41 Prozent in die Geschichte eingehen werden.

In einem Interview für „Radio Bulgarien“ versuchte der Rechtsanwalt, Dozent für Wirtschaftsrecht und ehemalige Parlamentspräsident Prof. Ognjan Gerdschikow, die Botschaft der Wahlverweigerer zu entschlüsseln, die nicht von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht haben.

„Dies ist ein Anti-Rekord. Er zeigt, dass dieses Modell überholt zu sein scheint. Es muss etwas radikal anderes gefunden werden. Vielleicht sollten wir zu einem gemischten Wahlsystem von Verhältnis- und Mehrheitswahl übergehen. Das könnte eine Voraussetzung für ein neues sinnvolles politisches Projekt sein. Ein solches wird mit Präsident Radew in Verbindung gebracht. Es könnte die Zeit dafür gekommen sein, denn das sind Prozesse, die in unserer Gesellschaft ausgereift sind“, sagte Prof. Gerdschikow.

Obwohl er kein Experte für Verfassungsrecht ist, ist Ognjan Gerdschikow der Meinung, dass ein Mehrheitswahlrecht hochqualifizierten Menschen aus verschiedenen Bereichen mehr Möglichkeiten bieten würde, zu kandidieren und als Abgeordnete gewählt zu werden.


Die Persönlichkeit des Parlamentspräsidenten  ist von größter Bedeutung für das Funktionieren und das Vertrauen in die Legislative des Landes, die zusammen mit der Exekutive und der Judikative die drei Säulen bildet, auf denen das staatliche System Bulgariens ruht.

In Anbetracht dessen sagte Prof. Gerdschikow, dass ein Jurist dem neuen Parlament vorstehen sollte. Seinen Worten zufolge seien aber die hochqualifizierten Juristen, die in den letzten Volksversammlungen vertreten waren, an den Fingern abzuzählen. Dieser Mangel wirkt sich auf die Qualität der Gesetzgebung aus, die sich auf einem amateurhaften Niveau befindet, so Prof. Gerdschikow. Die Qualität der gesetzgeberischen Tätigkeit ist auch die Ursache für den starken Vertrauensverlust in das bulgarische Parlament in den letzten zehn Jahren:

„Im Gegensatz zu allen entwickelten Ländern Europas, die über beratende Gremien von Fachleuten in den jeweiligen Bereichen verfügen, leistet sich unser Parlament diesen Luxus nicht und die Dinge entwickeln sich nach dem Prinzip des reinen Dilettantismus, mit lobbyistischen und unhaltbaren Gesetzen. Auch die jüngste Verfassungsänderung zeigt diesen eklatanten Analphabetismus in vielen Richtungen und ich hoffe sehr, dass das Verfassungsgericht dem nicht gleichgültig gegenüberstehen wird“, kommentierte Prof. Gerdschikow.


Was die Möglichkeit betrifft, während der Amtszeit dieses Parlaments die für unser Land wichtigen Ziele zu erreichen - den Beitritt Bulgariens zur Eurozone und zu Schengen auf dem Landweg - zeigte er sich eher skeptisch:

„Ich würde es mir sehr wünschen, dass unsere Erwartungen diesbezüglich erfüllt werden, aber wir scheinen uns von diesen beiden Zielen eher zu entfernen als ihnen näher zu rücken. Ich bin nicht übermäßig optimistisch, dass wir es in naher Zukunft schaffen werden.“


Vor dem Hintergrund der niedrigen Wahlbeteiligung stachen die Stimmen für mehrere politische Gruppierungen hervor, die sich gegen das Establishment richten. Zwei von ihnen, die Parteien „Es gibt ein solches Volk“ (ITN) und „Welitschie“, schafften den Einzug in die 50. Volksversammlung, während die dritte „Metsch“ (auf Deutsch Schwert) fast 3 Prozent Unterstützung erhielt.

„All dies zeigt, dass diese demokratischen Prozesse einen kritischen Tiefstand erreicht haben. Deshalb entstehen solche anti-systematische Parteien, von denen einige ziemlich besorgniserregend sind“, resümierte Prof. Ognjan Gerdschikow.

Er ist auch ein kein Optimist, was die langfristigen Perspektiven der 50. Volksversammlung angeht: „Irgendwann im Herbst könnte es zu Neuwahlen kommen“, prognostizierte der langjährige Parlamentarier.


Übersetzung: Rossiza Radulowa

Fotos: BTA





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