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1993: Ljuben Berow – "der Strohmann"

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Foto: Archiv

Nach dem Sturz des Kabinetts von Filip Dimitrow, hielt sich die nächste Regierung Bulgariens zwei Jahre. Am 30. Dezember 1992 übernahm der Wirtschaftsberater von Präsident Schelew – Prof. Ljuben Berow – das Staatsruder, nachdem die Bewegung für Rechte und Freiheiten mit Unterstützung der Bulgarischen Sozialistischen Partei die Regierung bildete. Ein Teil des Geschäfts zwischen den beiden Parteien war die Entlassung des ehemaligen sozialistischen Ministerpräsidenten Andrej Lukanow aus der Untersuchungshaft. Trotz der seiner gängigen Bezeichnung "Kabinett Berow" ist diese Regierung als "Kabinett von Multigroup" in Erinnerung geblieben – benannt nach der Holding "Multigroup", die eng mit den russischen Interessen und dem russischen Einfluss im Land verbunden war.

Zwei Jahrzehnte später herrscht die Meinung vor, dass das wohl die eigenartigste Regierung in der Zeit des Übergangs zu Demokratie und Marktwirtschaft war – das Mandat für die Kabinettsbildung stellte die Bewegung für Rechte und Freiheiten, sie wurde Dank der Mehrheit der Sozialistischen Partei vom Parlament gebilligt und sie erklärte, dass sie das Programm der Reformatoren von der Union der demokratischen Kräfte erfüllen werde, was natürlich nicht der Realität entsprach. Von Anfang an begann eine konsequente Säuberung der staatlichen Verwaltung von Leuten der vorherigen Regierung, unter den Entlassenen war zum Beispiel der stellvertretende Justizminister und spätere Staatspräsident Petar Stojanow.

Hier die Programmerklärung der Regierung, verlesen von Premierminister Berow, aus dem Tonarchiv des Bulgarischen nationalen Rundfunks:

"In ihrer künftigen Arbeit wird sich die Regierung von der Idee der Kontinuität in der staatlichen Verwaltung leiten lassen und wird keine grundsätzliche Revision der angenommenen rechtlichen Grundlage der Reform vornehmen", verspricht Ljuben Berow. "Die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank wird auch weiterhin fortgesetzt werden, um die notwendigen Kredite für die Strukturreform zu sichern, um die Zahlungsbilanz zu stabilisieren und die Devisenreserven zu erhöhen. Gleichzeitig wird die Regierung auch neue Prioritäten setzen, die mit der Notwendigkeit verbunden sind, zur Strukturphase der Reformen überzugehen. Die vorangegangene Regierung war weitgehend eine Regierung der Rückerstattung enteigneten Eigentums, unsere Regierung versteht sich hingegen in erster Linie als Regierung der Privatisierung, die nach einem klaren Programm erfolgen wird", so der neue Ministerpräsident in seiner Programmerklärung.

Das ist aber nicht alles. Bei völliger Symbiose zwischen den Interessen der Spitzenpolitiker des Mandatsträgers, der Bewegung für Rechte und Freiheiten, und der Sozialisten begann die neue Regierung mit einer grundlegenden Umverteilung der gesamten staatlichen und öffentlichen Ressourcen. Premierminister Berow wurde in die Rolle eines "Strohmannes" und eines Deckmantels für die Umsetzung von Korruption-Schemas versetzt. Den Spitznamen "der Strohmann" erhielt er von der Opposition wegen seiner Abhängigkeit von verschiedenen Wirtschaftsgruppen. Fast alle Minister des Kabinetts waren in Systemen verwickelt, um das Land auszuplündern. So zum Beispiel wurde der damaligeVizepremier Nejtscho Neew Ende 1999 unter dem Vorwurf festgenommen, den Schmuggel von Treibstoff nach Serbien in der Zeit des Embargos gegen Ex-Jugoslawien unterstützt zu haben – verurteilt wurde er aber nicht. Eigentümer von Firmen, die sich in dieser Zeit mit solcher illegaler Tätigkeit befasst haben, wurden später zu Oligarchen.

Mit der Unterstützung von Andrej Lukanow und unter der Leitung des damaligen Präsidenten der Bulgarischen Nationalbank Todor Wyltschew begann eine hemmungslose Erteilung von Lizenzen für die Gründung von privaten Banken mit öffentlichen Geldern. Natürlich wurden diese Lizenzen nur den "richtigen Leuten" erteilt. Und wenige Jahre später führten die Massenpleiten dieser Banken, die anderen "richtigen Leuten" massenhaft ungedeckte Kredite verteilt hatten, zur Bankenkrise, Hyperinflation und zur Abschöpfung der Ersparnisse der Bevölkerung – doch das ist eine andere Geschichte.

Das Chaos im Staat, die Arbeitslosigkeit und die Verarmung der Bevölkerung und vor allem das ineffiziente Justizsystem, schufen die Bedingungen für das Gedeihen der organisierten Kriminalität. Im Land tobten sich ungestört die Schlägerbanden der so genannten "Mutri" (zu Deutsch "Fratzen") und notdürftig als "Versicherungsgesellschaften" getarnte Schutzgelderpresser aus, es begannen Gangsterkriege – Schlägereien, Schießereien und Morde gehörten fast schon zum Alltag. Die von ehemaligen Sportlern gegründeten kriminellen Vereinigungen mischten sich grob und mit Gewalt in Produktion, Dienstleistungen und Handel ein. Ende 1993 wurde die "Konföderation der Großindustriellen" - "G13" gegründet, wodurch die großen Unternehmer ihre Ambitionen zeigten, sich in die Politik einzumischen. Berow erwies sich als Geisel von Oligarchen mit Ilija Pawlow und seiner Holding "Multigroup" an der Spitze. Mit der Protektion der Sozialisten und der Bewegung für Rechte und Freiheiten wurde sie schnell zu einem Imperium. Ihr Einfluss war so groß, dass sie es durch eigene Leute im Kabinett praktisch schaffte, den Staat zu regieren, während der Ministerpräsident periodisch mit der Diagnose "Herzprobleme" ins Krankenhaus eingeliefert wurde.

Und so kam es in den Jahren 1992-1994, dass nicht der Staat zu einer Mafia, sondern die Mafia zu einem Staat und einer Regierung kam, wie es in etwa der deutsche Enthüllungsjournalist Jürgen Roth ziemlich treffend ausdrückte. All dies geschah mit Unterstützung und unter Anleitung von Leuten der ehemaligen Staatssicherheit, die sich zu Schlüsselfiguren in der Regierung, in der Wirtschafts- und Machtgruppen gemausert hatten. Der Mangel an Willen und Fähigkeit, sich der Wirtschaftskriminalität und dem organisierten Verbrechen zu widersetzen, führte zu einer Verflechtung von Mafia-Strukturen und Staat. Die wirtschaftlichen Probleme, Streiks und Massenproteste gegen Armut und Korruption zwangen die Regierung schließlich am 2. September 1994 zum Rücktritt.

Präsident Schelew setzte Neuwahlen für den 18. Dezember 1994 an. Die geschäftsführende Ministerpräsidentin Reneta Indschowa, die sie vorbereitete, bezeichnete die Regierung von Ljuben Berow als "Regierung von Multigroup". Die zu einem Imperium angewachsene Holding behielt ihren Einfluss aber noch ein knappes Jahrzehnt – bis zur Ermordung von Ilija Pawlow am 7. März 2003.

Deutsche Fassung: Petar Georgiew



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