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Soziologen: Grund für die große Auswanderung sind die niedrigen Gehälter in Bulgarien

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Iwajlo Kalfin
Foto: BGNES

Über eine Million Bulgaren im aktiven Alter spielen mit dem Gedanken auszuwandern. Der Großteil davon sind Menschen mit Einkommen unter dem Durchschnittslohn in Bulgarien, der derzeit bei 1.117 Lewa liegt. Nachdem in den letzten 30 Jahren 1,5 Millionen Landsleute bereits emigriert sind, kommt nun jedes dritte bulgarische Kind im Ausland zur Welt. So hat der ehemalige Sozialminister und Verwaltungsratsmitglied des Instituts für Wirtschaft und internationale Beziehungen Iwajlo Kalfin die Ergebnisse einer soziologischen Studie zum Thema „Arbeitsmigration“ resümiert, welche von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gegeben wurde.

Die Erhebung wurde im September vorgenommen. Erfasst wurden 1.000 Bulgaren im Alter von 18 bis 64 Jahre. Wie sieht laut dieser Studie das Profil des angehenden Emigranten aus? Das ist ein Mann mit Mittelschulabschluss, der in einer Bezirksstadt lebt und sich nicht nach einer Arbeit auf Lebenszeit umsieht, sondern einen Auslandsjob für ca. fünf Jahre sucht. „Diese Menschen streben keine Auswanderung auf Dauer an. Während ca. die Hälfte der Emigranten aus EU-Ländern aber in ihre Heimat zurückkehren, wollen die Bulgaren nach ihrer Heimkehr erneut wieder weg. Hauptursache für die Emigration sind die niedrigen Gehälter in Bulgarien“, ist Iwajlo Kalfin überzeugt.

Aus langfristiger Sicht büßt unser Land durch das Abschröpfen von Arbeitsressourcen an Potential ein. Die Erwartungen sind nicht unrealistisch, dass die potentiellen Emigranten durch eine Anhebung der Gehälter dazu bewogen werden könnten, in Bulgarien zu verbleiben. Diese Menschen sind sich bewusst, dass sie während ihres Aufenthalts im Ausland etliche Kompromisse mit ihrer professionellen Qualifikation und Lebensqualität eingehen. Die Einkünfte sind ein sehr wichtiges Thema. Wenn davon gesprochen wird, dass sie in Bulgarien rapide ansteigen, sollte man richtig stellen, dass sie im Durchschnitt nach oben klettern. Für einige Gruppen wachsen die Einkommen in der Tat sehr schnell an, doch es gibt auch eine Gruppe bulgarischer Bürger, deren Löhne praktisch auf Eis liegen und extrem niedrig sind. Bei etwa 4 Millionen Bulgaren im arbeitsfähigen Alter zwischen 18 und 64 Jahren tragen sich 1 Million mit dem Gedanken auszuwandern. Das hat aber nicht zu bedeuten, dass sie das auch tun werden. Es handelt sich hierbei nicht nur um junge Menschen. Die Auswanderungskandidaten sind ziemlich gleichmäßig unter alle Altersgruppen verteilt, es gibt auch solche im fortgeschrittenen Alter. Weitere Motive für die Emigration sind der Mangel an Sicherheit und zwar nicht rein physischer, sondern sozialer Natur sowie die sozialen und medizinische Dienstleistungen und die Möglichkeit, das Leben mindestens für die nächsten 15 Jahre planen zu können. Wichtig sind das System von Sozialmaßnahmen und die Balance zwischen Arbeits- und Privatleben. Beispielsweise wollen die Leute ihre Kinder in Ruhe großpäppeln. In vielen europäischen Ländern sind die Kinderkrippen und Kindergärten kostenlos, es gibt flexible Arbeitszeiten. Ähnliche Dinge existieren zwar auch in der bulgarischen Gesetzgebung, doch sind sie nicht besonders bekannt und werden kaum genutzt. Man muss den jungen Familien die Sicherheit geben, dass man sich gut um ihre Kinder kümmert, während sie sich auf ihre Arbeit konzentrieren“, meint Iwajlo Kalfin.

Die Studie wird mit konkreten Politik-Vorschlägen begleitet, da die akuten Probleme nicht allein durch eine bessere Bezahlung aus der Welt geschafft werden können, meint Iwajlo Kalfin und weiter:

Wir sollten vom rein emotionalen Wunschdenken Abstand nehmen, die bulgarischen Bürger in Bulgarien zu halten und jene bulgarischer Abstammung ins Land zu holen. Vielmehr sollten wir uns konkrete Maßnahmen in diese Richtung überlegen. Mit seiner gegenwärtigen Politik bietet Bulgarien keine guten Bedingungen an. In ganz Europa herrscht Personalmangel in der Tourismus-, Verkehrsbranche etc. Wie wollen wir aber einen Fahrer oder einen Tourismus-Mitarbeiter mit den hiesigen Löhnen nach Bulgarien locken? Warum sollten sie es vorziehen, nach Bulgarien zu kommen anstatt in ein anderes europäisches Land? Hier sollte die Frage nach den niedrigen Einkünften gestellt werden, die zu allem Überdruss als einzige EU-weit auch noch besteuert werden. Es stimmt zwar, dass die Steuern in Bulgarien niedrig sind, aber selbst der Mindestlohn wird besteuert. Falls wir ein günstiges Klima schaffen wollen, damit unsere Landsleute wieder nach Bulgarien zurückkehren, müssen wir es ihnen erleichtern, sich hier wieder einzuleben. Sie müssen Bulgarisch sprechen, es muss Schulen geben, an denen sie ihre Bildung in Bulgarien fortsetzen können. Der Großteil der bulgarischen Emigranten zieht die Möglichkeit in Erwägung, nach Bulgarien zurückzukehren und hier mit den Ersparnissen ein Business zu starten. Deshalb können wir auf der einen Seite jene halten, die wegziehen wollen und auf der anderen Bedingungen dafür schaffen, dass ein Teil der Ausgewanderten wieder zurückkehrt, indem sie hier Arbeitsbedingungen vorfinden, die nicht schlechter sind als jene, die sie momentan im Ausland haben“, sagte abschließend Iwajlo Kalfin.

Übersetzung: Rossiza Radulowa



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