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Politische Parteien machen sich die Bürgermeisterposten immer streitig

Ein Bürgermeister sollte Leaderqualitäten, Kompetenz und administratives Talent mitbringen. Menschen mit Ansehen, die den Leuten vertrauenswürdig erscheinen, werden immer weniger, behauptet Dr. Milena Stefanowa

Foto: BGNES

Die Geschichte Bulgariens in den letzten Jahrzehnten des Osmanischen Reiches bis zum Jahr 1944 ist nicht nur wegen der Geschehnisse interessant, die sich in dieser Zeit ereignet haben, sondern auch wegen der Veränderungen, die sie bewirkt haben. Besagte Veränderungen waren das Ergebnis gekonnter politischer Führung, administrativer Talente und professioneller Kompetenz – alles Eigenschaften, die jeder Kandidat für einen Posten in der öffentlichen Verwaltung besitzen sollte. Nach der Befreiung von der türkischen Fremdherrschaft bis 1944 wurden die Bürgermeister der großen bulgarischen Städte mal vom Volk gewählt, mal ernannt. Aus diesem Grund wandelten sich stets auch die Kriterien und Regeln, weshalb „der Bürgermeisterposten immer ein Zankapfel unter den politischen Partien war“, sagt die Dozentin an der Sofioter Universität, Dr. Milena Stefanowa.

Während des zehnjährigen Vollmachtenregimes (1934-1944), in dem die Bürgermeister per Erlass des Zaren ins Amt berufen wurden, sind etliche Bürgermeister in die Geschichte des jeweiligen Ortes eingegangen, weil sie sich um die Stadtgestaltung und den Wohlstand der Bürger sehr verdient gemacht haben. Einer von ihnen ist der Bürgermeister von Sofia Dipl. Ing. Iwan Iwanow, der sein professionelles Können schon vor seiner Ernennung unter Beweis gestellt hatte. Unter seiner Leitung wurde die Rila-Wasserleitung in Sofia gebaut, die mit reinem Bergwasser aus dem Rilagebirge gespeist wird. Das Talent und das Wissen von Dipl. Ing. Iwan Iwanow hat später auch die kommunistische Führung beim Bau des Stausees „Iskar“ genutzt, welcher die bulgarische Hauptstadt mit Wasser versorgt.

Zusammen mit Dozent Milena Stefanowa lassen wir die Wahlkampagnen bis 1944 schnell Review passieren, zumal deren Analyse auch heute aktuell ist.

Sämtliche Wahlkampagnen waren von Parteigerangel, Anschwärzen und Schlechtmachen der Kandidaten der Konkurrenz gezeichnet. Bereits vor der Befreiung von der türkischen Fremdherrschaft, als die bulgarischen Ortsherren (Tschorbadschii) eine Art Bürgermeister waren, haben sie Tschorbadschii-Parteien gegründet. Danach sind sie sich mit allen Mitteln in dem Kampf gestützt und sind nicht einmal vor Mordtaten oder der Vernichtung von bereits errichteten Schulen zurückgeschreckt. Als Grund dafür konnte beispielsweise die Tatsache herhalten, dass sich die konkurrierenden Parteien darüber stritten, wo die Schule exakt stehen sollte. Es hat immer solche unlauteren Methoden gegeben. Heutzutage sind wir Zeuge von Stimmenkauf und von gescheiterten Versuchen, ihn zu unterbinden“, sagt Dozent Stefanowa.

Sie hat ein ganzes Buch geschrieben, das den bulgarischen Tschorbadschii gewidmet ist, ihren Sitten und der Zeit, in der sie gelebt haben.

Ich habe darin die Komponenten erforscht, die den politischen Prozess in jener Zeit begleiten, den wir nur bedingt als solchen bezeichnen dürfen. In den letzten Jahren des Osmanischen Reiches hat die offizielle Macht nach Wegen gesucht, Vertreter der eingenommenen Territorien in ihr Machtgefüge zu integrieren, weil sie das entlastet hat. Dem Sultan ging es vor allem darum, dass es keine Unruhen gibt und die Steuern regelmäßig entrichtet werden. Das gelockerte Regime in den letzten Jahren des Osmanischen Reiches führte zum Erwachen unterschiedlicher Interessen, Ziele und Ambitionen. Ein Teil der Bevölkerung konnte zu Wohlstand kommen und Führungspositionen beanspruchen. So sind die ersten Konflikte und Beziehungen entstanden, die auch nach der Befreiung Bestand hatten.“

So gesehen sollten uns die häufigen Regierungswechsel danach nicht sonderlich verwundern. Damals wie heute ist der Kampf von Ideen eigentlich ein Kampf um Macht, Einfluss und die Verteilung von Ressourcen. All das wurde in der bulgarischen Literatur sehr treffend dargestellt, sehen wir uns nur die Feuilletonhelden von Aleko Konstantinow an. Sie erscheinen auch heute noch brandaktuell, allerdings:

Die Mittel und Methoden sollten zeitgemäß sein. Zu Zeiten von Aleko Konstantinow gab es kein Internet, der Zugang zu Informationen war begrenzt. Wir sollten uns vor Augen halten, dass das Internet uns als Bürger mehr Kraft und Möglichkeiten gibt. Ich wünschte mir, dass wir aufhören, uns von Fake-News beeindrucken zu lassen, die man damals als offene Lüge bezeichnet hätte. Jemand, der in Verruf gebracht wurde, hatte es wirklich sehr schwer, seinen Namen wieder reinzumachen. Heutzutage wissen die Menschen nicht mehr so recht, wem sie Glauben schenken können. Es gibt immer weniger angesehene Leute, die Vertrauen erwecken und das erschwert die Lage in der modernen Gesellschaft. Ich würde mir wünschen, dass man den Institutionen mehr Vertrauen entgegenbringt, aber sie agieren nicht als solche, sondern sind parteiabhängig“, sagte in ihrem Interview für Radio Bulgarien Dozent Milena Stefanowa.

Übersetzung: Rossiza Radulowa


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