Mit 16 „für“ und 4 „gegen“-Stimmen enthob der Rat des Obersten Gerichtshofs den Chefankläger Iwan Geschew in seiner Abwesenheit seines Amtes. Zu dieser für Bulgarien beispiellosen Entscheidung kam es nach zwei mehrstündigen Sitzungen, Debatten und der Anhörung von Zeugen.
Der Beschluss des Obersten Gerichtshofs muss durch ein Dekret des Staatsoberhauptes bestätigt werden. Eine Frist, innerhalb derer es unterzeichnet werden muss, ist jedoch nicht ausdrücklich erwähnt. Deshalb ist die Aufmerksamkeit nun auf das Staatsoberhaupt Rumen Radew und seine Entscheidung gerichtet, wann er das Dekret veröffentlicht.
Zwischenzeitlich hat Iwan Geschew zwei Fragen an das Verfassungsgericht gerichtet, in denen es um die Legitimität der aktuellen Zusammensetzung des Obersten Gerichtsrates geht, die seit neun Monaten abgelaufen ist, sowie um die Zulässigkeit seiner Absetzung mit weniger Stimmen.
Muss das Staatsoberhaupt die Antwort des Verfassungsgerichts abwarten und kann sein Dekret angefochten werden, wenn er es sofort veröffentlicht, denn es würde damit ein Artikel der Verfassung verletzt werden, der vorsieht, dass die Amtsenthebung nicht in Abwesenheit erfolgen kann, da das Recht auf Verteidigung verletzt werde.
Der ehemalige Innenminister Emanuil Jordanow sagte in einem Interview für den Bulgarischen Nationalen Rundfunk (BNR), dass kein Artikel der Verfassung verletzt werde, denn im Recht gebe es die Maxime, die besagt, dass niemand aus seinem rechtswidrigen Verhalten Rechte ableiten könne. Wenn sich Iwan Geschew entschieden habe, zu den europäischen Institutionen zu gehen, um den Ex-Premierminister Bojko Borissow anzuschwärzen, sei das seine persönliche Entscheidung. Das sei jedoch äußerst unseriös und eine leichtfertige Behandlung der Angelegenheit, die nicht toleriert werden sollte, sagte Jordanow.
Das Verfassungsgericht hat es jedoch nicht eilig in diesem Wettlauf der Zeit. Die Überschneidung dieser beiden Verfahren und die Verzögerung könnte sich als Schlüssel zur Lösung des Rätsels erweisen, kommentierte die Dozentin für Verfassungsrecht Natalia Kisselowa für bTV. Sie erinnerte, dass mehrere Justizminister von der regulären und der Übergangsregierungen versucht hätten, den Chefankläger aus seinem Amt zu entfernen und sie kein Erfolg hatten. Was die Frage betrifft, das Mandat des Chefanklägers vorzeitig zu beenden, stellte sie die Prognose auf, dass der Präsident bis Ende dieser oder Anfang kommender Woche das entsprechende Dekret erlassen wird. Die Gespräche, deren Zeugen wir in der letzten Zeit wurden, hätten aber Eines gezeigt. Die Qualitäten der Mitglieder des Obersten Gerichtsrates entsprechen leider nicht der Verdoppelung der Justizkosten in den letzten Jahren in unserem Land, sagte Kisselowa.
Die Karriere von Iwan Geschew als Chefankläger hätte überhaupt nicht beginnen dürfen, erklärte Anwalt Welislaw Welitschkow im Staatsfernsehen (BNT). Ihm zufolge hätten die Mitglieder des Obersten Justizrates mit ihrer gestrigen Entscheidung zugegeben, dass sie die moralische Integrität und berufliche Kompetenz des Generalstaatsanwalts schon am Tag seiner Wahl nicht richtig eingeschätzt haben. Als Mitglied der Nichtregierungsorganisation „Gerechtigkeit für alle“ gehört Anwalt Welitschkow zu den Organisatoren einer Reihe von Protesten gegen die faktische Ernennung von Iwan Geschew zum Chefankläger. Der Vorschlag dafür kam von seinem Vorgänger Sotir Zazarow. „Dreieinhalb Jahre später erwiesen sich alle unsere Argumente als überzeugend und wurden von jenen, die Geschew gewählt haben, bestätigt“, kommentierte Welitschkow. „Das ist die größte Ironie des Schicksals. Die Karriere von Herrn Geschew stellt eine Bedrohung für die bulgarische Justiz dar. Er handelt selektiv, ist als Chefankläger wirkungslos und hat mit seinen politischen Äußerungen und seinem Vorgehen jahrelang die Unabhängigkeit des Gerichts infrage gestellt“, ist Anwalt Welitschkow kategorisch.
Die politischen Beobachter betrachten die Äußerungen und Handlungen von Iwan Geschew in den letzten Wochen als Versuch, sich im politischen Raum zu legitimieren.
Eine politische Zukunft für den Chefankläger glaubt auch der Soziologen Parwan Simeonow zu erkennen. In einem Interview für den BNR sagte der Direktor der Meinungsforschungsagentur Gallup, dass dies eine Chance für Iwan Geschew bedeuten würde, weiter sprechen zu können. Seiner Ansicht hat nach hat Geschew ein für sich günstiges politisches Segment erkannt – zwischen der sich abzeichnenden extrem euroatlantischen Regierung und der radikalen prorussischen Opposition im Antlitz der Parlamnetspartei Wasraschdane. Die aktuelle Situation sei eine Lektion für die prowestlichen Liberalen, glaubt Parwan Simeonow.
„Iwan Geschew ist entschlossen, zu tun, was er kann. In irgendeiner Weise war er eine Überraschung für diejenigen, die hinter ihm standen und ihn irgendwann über Bord geworfen haben. Diejenigen, die in Bulgarien über die Legitimation bestimmen, ob man gut oder schlecht ist, sind die prowestlichen Liberalen. Geschew ist in der Lage, viele Umstände ans Tageslicht zu bringen. Der Kampf um die Interpretation wird weitergehen - der erste Schritt ist die Justizreform. Borissow ist nicht ideal, aber Radew wird vom Kreml gelenkt. All das sind Dinge, mit der sich die Welt sehr leicht erklären lässt. Das haben wir schon oft beobachtet“, sagte Parwan Simeonow abschließend .
Redaktion: Joan Kolev
Übersetzung: Georgetta Janewa
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