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Jean-Yves Potel: “Es ist gefährlich, ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten zu institutionalisieren!“

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Foto: Ani Petrowa

Die Europäische Union macht schwere Zeiten durch. Brexit, die Ereignisse in Katalonien, die Referenden für eine größere Unabhängigkeit der zwei reichsten Regionen Italiens – der Lombardei und Venetiens – und unverhohlene Differenzen zwischen den EU-Mitgliedländern liefern immer mehr Politologen Grund zu der Behauptung, das Motto der EU „In Vielfalt geeint“ sei ernsthaft kompromittiert, ja sogar überholt – die Dialektik zwischen Gemeinsamkeiten und Unterschieden, die dem sozialen und Wirtschaftsprojekt Europäische Union zugrunde liegt. In der Tat spricht man immer öfter von einem Europa der zwei oder der unterschiedlichen Geschwindigkeiten, egal ob wegen der Eurozone, die für interne Grenzen in Europa sorgt oder wegen dem Schengenraum. Ob die Kluft zwischen Osten und Westen, zwischen Norden und Süden überbrückt werden kann oder sie noch breiter wird? Wird die EU es schaffen, die Unterschiede zu überwinden und den Weg der Integration einzuschlagen? Wie sollte sie sich vor dem Hintergrund wachsender Vielfalt am besten reformieren?

Mit diesen Fragen wandten wir uns an den französischen Politologen und Geschichtswissenschaftler Jean-Yves Potel.

Meiner Ansicht nach sollte man Europa einen neuen Sinn geben. Die Schaffung der Europäischen Union blickt auf eine lange Geschichte zurück, hat Zeiten der Konsolidierung und der Trennung durchlaufen. Alle reden heute von Europa, doch kaum jemand weiß, welches Ziel wir verfolgen, was wir genau erreichen wollen. In all diesen Jahren hat sich die EU erweitert – von ursprünglich sechs Ländern sind wir inzwischen 28 und sollen demnächst 27 werden. Wenn ich einen Blick zurückwerfe, meine ich, dass die Wurzeln der Spaltung und der unterschiedlichen Auffassungen in der EU in der Vergangenheit zu suchen sind, in den kulturellen Unterschieden, im Wechsel zwischen Krieg und Frieden, vor allem im 20. Jahrhundert, als die Völker durch schwierige und schmerzhafte Zeiten gehen mussten. Darauf fußen auch die Sichtweisen einiger Länder wie Russland, Deutschland, Italien, Frankreich, die im Laufe von Jahrhunderten geprägt wurden. Die EU wurde als Kontrapunkt von Krieg und Feindseligkeiten zwischen den Völkern geschaffen. Deshalb meine ich, genau wie Emmanuel Macron, dass wir die Grundwerte Europas erhalten und sie durch neue Werte ergänzen sollten, die unsere Einheit fördern und nicht unsere Spaltung. Nur so gewinnt Europa einen neuen Sinn, im Einklang mit den Realitäten des 21. Jahrhunderts. Was die regionalen und örtlichen Aufrufe zu Unabhängigkeit angeht, so sind sie nichts Neues. Das ist ein Mittel, um die Vielfalt zu legitimieren, ohne einen endgültigen und unumkehrbaren Bruch herbeizuführen. Heute steht Katalonien auf der Tagesordnung, doch wir könnten genauso gut auch von Korsika, dem Baskenland, Flandern, Nordirland, Schottland sprechen…“, betont Jean-Yves Potel.

Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Vielfalt oft in Trennung mündet und dies das Entwicklungstempo der EU-Länder behindert. Daher rührt auch der berühmt-berüchtigte Begriff von einem „Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten“, der sich der Weg bahnt und für neuen Unmut sorgt. Bulgarien ist diesbezüglich besonders empfindlich. Wie sieht die Zukunft aus, wird es ein einheitliches Europa geben oder mehrere Europas in einem?

Als man begonnen hat, ein vereintes Europas zu schaffen, wurde der Vertrag von Maastricht verabschiedet. Er hat den Begrifft „Stärkere Zusammenarbeit“ eingeführt, der es einzelnen Mitgliedsländern erlaubt, sich zusammenzutun und zu bestimmten Themen aktiv zu kooperieren. So sind die Eurozone und der Schengenraum entstanden, die für Gegenüberstellungen sorgen. Ich bin der Ansicht, dass die Unterschiede nicht institutionalisiert werden dürfen. Wir dürfen uns nicht dazu verleiten lassen, ein Europa der zwei, drei oder mehr Geschwindigkeiten zuzulassen. Vielmehr sollten wir uns bemühen, Unterschiede zu kaschieren und dabei die Vielfalt zu erhalten. Derzeit wird in Brüssel die Idee über die Schaffung eines Parlaments der Länder aus der Eurozone erörtert. Das darf nicht passieren. Das Europäische Parlament ist eins und für alle da.

Am Vorabend seiner EU-Ratspräsidentschaft hat Bulgarien seine Prioritäten verkündet, darunter die Ausweitung Europas in Richtung Westbalkan. Sehen Sie diese Idee als realistisch und erreichbar an? Haben die Westbalkanländer einen Platz in der EU?

Ich war stets gegen die Auffassung von Leuten, die behaupten, der Balkan sei ein „Land des Teufels“, vor dem wir uns hüten und aus dem Weg gehen sollten. Ich glaube auch nicht an die Definition „Pulverfass Europas“. Es stimmt zwar, dass in dieser Region jahrelang ein verbrecherischer Nationalismus gewütet hat, der die Feindseligkeiten zwischen den Völkern schürt. Es wurden sehr schwere Kriege geführt, doch sollten wir alles Mögliche tun, um diese Länder in die EU einzugliedern, natürlich nachdem die Beitrittskriterien erfüllt wurden. So werden wir ein für alle Mal diese Dynamik von Trennung und Hass unterbinden“, sagte abschließend Jean-Yves Potel.

Übersetzung: Rossiza Radulowa



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