Nach der Neugründung Bulgariens (1878) wurden bereits in der ersten Landesverfassung moderne und demokratische Normen eines allgemeinen Wahlrechts festgelegt. Bis zum Ersten Weltkrieg wurden die Abgeordneten nach dem Mehrheitswahlsystem gewählt. Mit den Jahren wurde die Wahlgesetzgebung vervollkommnet und die Wahllokale wurden zunehmend erreichbarer, was auch zu einer Erhöhung der Wahlbeteiligung sorgte: von 20 Prozent im Jahre 1879 bis über 50 Prozent und sogar 80 Prozent zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Eine interessante Tatsache ist, dass die Wahlzettel in den Anfangsjahren vom Wähler selbst oder von den Parteiagitatoren ausgefüllt wurden.
„Da es sich um von Hand ausgefüllten Wahlzetteln handelte, musste jeder Wähler zureichend gebildet sein, d.h. lesen und schreiben können“, erzählt Dr. Swetoslaw Schiwkow, Chefassistent an der Geschichtsfakultät der Sofioter Universität „Heiliger Kliment von Ochrid“. „Das Gesetz verpflichtete jedoch den Wähler nicht, den Wahlzettel selbst zu schreiben; er durfte mit einem vorher verfassten zu den Urnen gehen. Angesichts der Tatsache, dass die Männer nur zu 3 Prozent lesen und schreiben konnten, war das eine gängige Vorgehensweise. In Italien beispielsweise war es nicht anders, wo ein noch größerer Analphabetismus herrschte. Farbige Wahlzettel wurden im Zuge der Reformen in den Jahren 1909 bis 1913 eingeführt. Zu diesen Reformen gehörte auch die Einführung eines Verhältniswahlsystems. Die farbigen Stimmzettel sollten jenen helfen, die nicht lesen und schreiben konnten. Es kamen gedruckte Stimmzettel auf.“
Bulgarien gehört zu den ersten Ländern in der Welt, in denen ein Verhältniswahlsystem eingeführt wurde, was auch in Serbien, der Schweiz, Finnland, Belgien und auf Kuba genutzt wurde. Man ging davon aus, dass beim Mehrheitswahlsystem das Ergebnis verfälscht werde, da ein Großteil der abgegebenen Stimmen entfallen, die für nichtgewählte Kandidaten abgegeben worden sind.
„Bei der Mehrheitswahl konnte sich in einigen Wahlkreisen die führende Partei, die meist die Regierungspartei war, bei mehr Mandaten im Durchschnitt 45 bis 50 Prozent der Stimmen sichern. Mit den sogenannten Überhangmandaten kam sie zuweilen auf 80 und mehr Prozent. Das wurde in vielen europäischen Ländern als ein Problem angesehen und daher gingen etliche Länder zu Direktmandaten an Stelle der Verhältniswahl über. In einer Reihe von Ländern, darunter in Bulgarien, zog man vor, mehrere Mandate in einem Wahlkreis zu haben. Dieses Verhältniswahlsystem bietet auch einen anderen Vorteil: die Parteivorsitzenden können leichter gewählt werden.“
Bei der Mehrheitswahl kann es nämlich häufig vor, dass eine oppositionelle Partei nur mit Abgeordneten, die in den kleineren Gemeinden gewählt wurden, im Parlament vertreten wurde und nicht von ihren Parteivorsitzenden in Sofia oder den anderen Großstädten.
Es ist beeindruckend, dass bereits 1912 in das bulgarische Verhältniswahlsystem ein Mehrheitswahl-Element eingeführt wurde. Der Wähler hatte das Recht, unerwünschte Kandidaten in einer Liste durchzustreichen.
„Wenn auf diese Weise ein Kandidat mehr als die Hälfte dieser Gegenstimmen für eine Partei erhielt, wurde er letzter, auch wenn er die Liste anführen sollte“, erklärt Dr. Swetoslaw Schiwkow. „1923 wurde eine weitere Veränderung vorgenommen – man verringerte die Anzahl der Mandate pro Wahlkreis von 15 auf 3.“
Wie man ein Parlament ohne Parteien wählen kann und ob die Spitzenparteien in Bulgarien immer dazu berufen waren, Wahlen zu gewinnen, erzählt Dr. Swetoslaw Schiwkow von der Geschichtsfakultät der Sofioter Universität in der nächsten Folge.
Übersetzung und Redaktion: Wladimir Wladimirow
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