Sendung auf Deutsch
Textgröße
Bulgarischer Nationaler Rundfunk © 2024 Alle Rechte vorbehalten

Erschütterungen in Koalitionsregierung werfen dunkle Schatten voraus

Foto: BGNES

Eine Reihe innen- und außenpolitischer Krisen und fehlende Toleranz in den ersten 100 Tagen der Amtszeit der Koalitionsregierung. Das ist kennzeichnend für die die bulgarische Regierung, der vier Parteien mit sehr unterschiedlichen und oft sogar völlig gegensätzlichen Positionen zu einer Reihe wichtiger Fragen angehören. Hinzu kommen der seit fast einem Jahr lodernde Konflikt zwischen der Exekutive und der Staatsanwaltschaft sowie die Meinungsverschiedenheiten mit Präsident Rumen Radew zu einigen wichtigen Themen, was die Regierung in ihren Grundfesten erschüttert.

„Die Koalition zwischen den vier Regierungsparteien wurde auf der Grundlage der Anti-GERB-Konsolidierung gebildet. Das Problem ist, dass die Stimmung in der Gesellschaft etwas sehr Flüchtiges ist und sich schnell ändert“, sagte der Politologe Swetlin Tatschew in einem Interview für den BNR.

Der Krieg in der Ukraine hat uns an eine alte Spaltung in -Phile und -Phobe erinnert. Die Regierung fühlt sich dabei nicht sehr wohl, da auf der einen Seite die „Bulgarische Sozialistische Partei“ (BSP) steht (die kategorisch erklärt, dass sie die Koalition verlassen wird, wenn Bulgarien der Ukraine militärische Unterstützung schickt), und auf der anderen Seite euro-atlantische Politiker, wie die der Formation „Demokratisches Bulgarien“. Aus diesem Grund sind fast alle Entscheidungen über den Krieg in der Ukraine schwierig und geraten ins Stolpern“, analysiert Tatschew und fährt fort:

Swetlin Tatschew

„Es gibt auch kleinere Auseinandersetzungen in der Koalition, die nicht das Potenzial haben, die Stabilität des Kabinetts zu beeinträchtigen. Das ist zum Beispiel der Streit um die Wahl des Präsidenten der Nationalbank (BNB). Es muss ein Weg gefunden werden, dieses Problem zu lösen, denn es wäre ein großer Fehler, wenn das zum Sturz des Kabinetts führen würde. Ich bin mir nicht sicher, ob die Wähler die Auflösung der Koalition in einer derart komplizierte innen- und außenpolitischen Lage verzeihen würden.“

Die Tatsache, dass es der Regierung nicht gelungen ist, eine gemeinsame Ausrichtung in der Politik zu finden, deutet darauf hin, dass die Widersprüche zwischen den Koalitionspartnern immer häufiger werden, prognostiziert der Politikwissenschaftler Strachil Delijski. Er lenkt die Aufmerksamkeit aber auch auf ein anderes wichtiges Detail:

Strachil Delijski

„Die Idee, dass die parlamentarische Demokratie durch Parteien ausgeübt wird, ist zu Bruch gegangen. Weder „Wir setzen die Veränderung fort“, noch „Es gibt so ein Volk“ sind Parteien im eigentlichen Sinne, über die Klarheit herrscht, welche gesellschaftlichen und sozialen Interessen sie vertreten. Auch in der BSP konzentriert sich alles auf die persönliche Vorstellungen der Parteiführung.“

Was die Haltung der Koalitionspartner zu außenpolitischen Leitthemen wie dem Krieg in der Ukraine und dem Veto auf den Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien anbelangt, herrschen ebenfalls krasse Unterschiede, die gemeinsame Entscheidungen behindern.

Tatjana Burudschiewa

„Wie im Fall „Nordmazedonien“ können wir angesichts der konträren Meinungen keine Lösung der Krise erwarten“, konstatiert die Politikwissenschaftlerin Tatjana Burudschiewa in einem Interview für den BNR. „Dieses Problem „sprengt“ die bulgarische Gesellschaft, weil sie ebenfalls emotionsgeladen ist. Dem Premierminister gelang es, Bulgariens Position gegenüber den europäischen Partnern zu verbessern, unter anderem mit seinem symbolischen ersten Besuch in Skopje. Von da an gab es jedoch keine Konkretisierung oder Entwicklung der bulgarischen Position zur europäischen Zukunft unseres Nachbarn. Er versprach, dass der Konflikt gelöst und die Beziehungen zwischen beiden Ländern verbessert werden. Die Wahrheit ist, dass die Wirtschaftsbeziehungen andere Probleme nicht lösen können. genannt seien die Hassrede, Versuche, die bulgarische Identität zu untergraben, Druck auszuüben, um das bulgarische Selbstbewusstsein aufzugeben, und andere. Auch die Ergebnisse der Volkszählung in Nordmazedonien, die gezeigt haben, dass dort lediglich 3.504 Bulgaren leben, legen ein beredten Zeugnis ab.“

Genauso sehe es auch in Bezug auf die Polarisierung in der Koalition und der Gesellschaft aus, was die Bereitstellung von Militärhilfe für die Ukraine betrifft, meint Borudschiewa.

Unterm Strich kommt heraus, dass nur schwer vorhergesagt werden kann, wie viel Zeit uns von vorgezogenen Parlamentswahlen trennt.

Zusammengestellt: Joan Kolev (nach Interviews von Latschesar Christow vom BNR-Programm „Radio Sofia“, Poalina Komsalowa von BNR-Plowdiw und Alexander Rajtschew vom BNR-Programm „Christo Botew“)
Übersetzung und Redaktion: Wladimir Wladimirow
Fotos: BGNES, BNR, Archiv




Последвайте ни и в Google News Showcase, за да научите най-важното от деня!

mehr aus dieser Rubrik…

7 Parteien im neuen Parlament, 7 Ansichten über die künftige Regierung

Die Uneinigkeit schadet der Staatlichkeit. Die bulgarischen Wähler wollen Veränderungen, und es ist Aufgabe der Politiker, sie herbeizuführen - geplant, bewusst und mit Verstand. Wir leben in einer sehr dynamischen Zeit, wir leben in einer..

aktualisiert am 19.06.24 um 14:06
Prof. Ognjan Gerdschikow

Prof. Gerdschikow: Die Zeit ist reif für ein neues sinnvolles politischen Projekt und für eine Änderung des Wahlsystems

Am 19. Juni 2024 nimmt die 50. bulgarische Volksversammlung ihre Arbeit auf. Präsident Rumen Radew hat die neu gewählten 240 Abgeordneten zu ihrer ersten Sitzung einberufen. Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen haben die Bulgaren für den..

veröffentlicht am 19.06.24 um 08:00
Bojko Borissow von GERB (l.) und Deljan Peewski (DPS)

Das Dilemma reguläre Regierung oder Neuwahlen im Herbst bleibt auch nach dem 9. Juni bestehen

Der scheinbar kategorische Sieg von GERB-SDS bei den nationalen Parlamentswahlen bedeutet nicht, dass es der Partei in jedem Fall gelingen wird, eine Regierung in der einzig möglichen Form zu bilden, indem sie eine Koalition mit einer oder mehreren..

veröffentlicht am 10.06.24 um 15:42